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Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Wiedersehen in Hannesford Court - Roman

Titel: Wiedersehen in Hannesford Court - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Moment lang sogar gedacht …
    Vor mir flatterte eine Amsel in einer Kaskade von Schnee aus einer Hecke auf. Ich sah ihr nach. Nein, ich würde nicht an den Abend mit Tom denken. Ich musste mein Leben selbst gestalten und hatte ganz gewiss zu viel von der Welt gesehen, um meine Pläne wegen zweier lächelnder brauner Augen über den Haufen zu werfen.
    Außerdem hatte mein Gespräch mit Tom alle möglichen Dinge aufgerührt, an die ich mich nicht erinnern wollte. Dingeaus jenem Sommer, vom Rosenball. Meine Naivität, meine Torheit. Selbst die Freude, die ich in jenen Sommermonaten empfunden hatte, erschien mir im Rückblick schmerzlich, vielleicht schmerzlicher als alles andere. Und Tom hatte nichts davon gemerkt. Er war in Gedanken woanders gewesen, und ein Teil von mir trug es ihm immer noch nach.
    Es war seltsam, inmitten der verschneiten Landschaft an den Rosenball zu denken. In jenem Sommer war ich ein anderer Mensch gewesen, ein Mensch, den ich kaum wiedererkannte. Die Ballwoche war immer am hektischsten. Es war die Woche, in der die Stansburys London verließen und zu den Freuden des Landlebens zurückkehrten; eine Woche, in der die Abende lang und die Nächte kurz waren und der Duft der Rosen mit jedem Tag üppiger zu werden schien; eine Woche, in der immer die Sonne schien und das Thermometer stieg und die Lieferanten hin und her eilten wie von Pollen trunkene Bienen. Hecken wurden gestutzt, Blumen hochgebunden, die Rasenflächen von geduldigen Ponys mit ledergeschützten Hufen zu samtiger Perfektion gekämmt. Eine aufregende, energiegeladene Woche voller Erwartungen. Nichts im Jahr ließ sich mit ihr vergleichen. Ihr Zauber war berauschend.
    Und der Professor? An den stillen Sommertagen hatte ich seine Gesellschaft genossen, war in dieser letzten Woche aber so atemlos, so abgelenkt gewesen, dass ich keine Zeit fand, an ihn zu denken. Ich konnte mich nicht einmal daran erinnern, ihn während des Balls gesehen zu haben. Die ersten Gäste waren eingetroffen, als die Sonne noch über dem Horizont stand. Sie schienen sich in ihrer Abendkleidung nicht recht wohl zu fühlen, weil es noch so heiß war. Bald aber kamen die Kutschen herbeigefahren, und die Gäste verteilten sich im Park und auf der Terrasse. Der Professor musste auch irgendwo im Gedränge gewesen sein, doch ich hatte ihn nicht gesehen. Als es dunkel wurde, begann die Kapelle zu spielen, und die Laternen in den Bäumen leuchteten wie fremde Monde. Alles warperfekt gewesen. Kaum zu glauben, dass auf dem Höhepunkt des Balls unten an der alten Brücke etwas so Verwerfliches geschehen war.
    Wer würde so mit einem alten Mann umgehen? Gewiss niemand, den ich kannte. Die Besucher von Hannesford schlugen keine anderen Gäste. Und doch hatte ich seinen Gesichtsausdruck gesehen, als er die Stufen emporwankte; ich hatte seine Not gesehen, den Schock in seinen Augen, seine Atemlosigkeit …
    Für wen konnte ich mich verbürgen? Ich hatte den ganzen Abend lang dem Treiben zugesehen und hätte bemerken müssen, wer in den Minuten, bevor der Professor starb, gefehlt hatte.
    Reggie Stansbury beispielsweise war die ganze Zeit über da gewesen, oder? Ich erinnerte mich, wie er kurz vor dem Tod des Professors schmollend mit einer Freundin von Margot getanzt hatte. Hatte er sich danach zum Fluss hinuntergeschlichen? Sicher war ich mir nicht. Dann war da Oliver Eastwell. Alle hatten auf seine Verlobung angestoßen. Gerade er hatte gewiss die ganze Zeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. Freddie Masters? Ich hatte ihn früher am Abend gesehen. Er hatte mir ein Glas Champagner auf die Terrasse gebracht, als sich das Licht golden färbte. Und später noch einmal, gegen Ende, als er mir auf der Suche nach Oliver über den Weg lief. Also war Oliver womöglich nicht die ganze Zeit über da gewesen …
    Nein, es war zu schwierig. Ich hatte mir natürlich keine Notizen gemacht. Und an jenem Abend ohnehin nur Augen für einen gehabt. Er zumindest, das wusste ich sicher, war auf dem Ball gewesen, als der Professor zu Tode kam.

10
    A m Morgen schloss ich mich in der Dunkelkammer ein und sah mich stirnrunzelnd in der künstlichen Dunkelheit um. Wieder hier zu sein, kam mir vor, als rührte man den Staub eines uralten Grabes auf, als enthüllte man Gegenstände und Artefakte, die vergessene Hände dort aufgestellt hatten. Nur waren es meine eigenen Hände gewesen, und es war meine eigene Vergangenheit, die ich enthüllte. Überall sonst hatte sich die Welt verändert,

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