Wiedersehen in Harry's Bar

am anderen Ende der Gasse. Ich hörte einen unterdrückten Fluch und eine Folge langsam näher kommender Schritte.
    Auf halbem Weg knipste der Mann eine Taschenlampe an, und ich sah sein Gesicht.
    Der Bart.
    Das spöttische Grinsen.
    Die Kamera.
    Diese Kombination ließ keinen anderen Schluss zu – Swierczynski.
    Er trug einen langen, abgewetzten Mantel, dessen Schöße hinter ihm praktisch über den Boden schleiften und dabei kleine Steinchen und anderen Straßendreck mitnahmen, was vermutlich seine Vorstellung von verdeckter Ermittlung entsprach. Offensichtlich hatte er mich noch nicht entdeckt.
    Ich spürte Adrenalin in mir aufsteigen, und es war ein gutes Gefühl, auf etwas wütend zu sein, gegen das ich auf der Stelle etwas unternehmen konnte. Mir war völlig egal,was mit mir passierte; schon allein das verschaffte mir einen großen Vorteil.
    Ich verbarg mich mit dem Rücken zur Wand in der Dunkelheit und wartete, hörte seine Stiefel näherschlurfen, wartete, bis er sich direkt vor mir befand. Mir fiel ein, wie er in Venedig versucht hatte, Gobis Flinte zu packen. Er war dabei nicht besonders schnell gewesen, und ohne das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte er überhaupt keinen Vorteil mehr.
    Ich packte zu und wickelte mir das Umhängeband der Kamera mit einer schnellen Bewegung ums Handgelenk.
    Er ging grunzend zu Boden, fiel auf den Rücken, und mein Knie landete auf seiner Brust.
    »Immer noch hinter Gobi her?«, fauchte ich ihn an. Ich war so dicht über seinem Gesicht, dass ich die Essiggurken und den säuerlichen Wodka in seinem Atem roch. Egal, was Kaya diesem Kerl bezahlte, es war zu viel. »Vielleicht kann ich dir dabei helfen.«
    »Wo ist sie?«
    Ich stieg von seiner Brust. »Komm mit.«
    »Wohin?«
    »Hoch mit dir«, sagte ich. »Wir gehen Kaya besuchen.«
    Er blinzelte mich verständnislos an.
    »Und zwar sofort«, sagte ich. »Höchste Zeit, dass ich deinen Boss kennenlerne.«
    Er schüttelte schnell und ablehnend den Kopf. »Das ist unmöglich.«
    »Das ist sehr wohl möglich.« Ich schenkte ihm ein kaltes Lächeln, das nichts mit den üblichen Gründen zu tun hatte, aus denen Leute lächeln: Fröhlichkeit, Humor, Hoffnung. »Wenn ich auf meiner Europareise eins gelernt habe,dann dass der Mensch sehr viel flexibler ist, als im Allgemeinen angenommen wird.«
    »Aber ich kann unmöglich –«
    »Ich will mit Kaya sprechen. Du hast eine Kontaktnummer, eine E-Mail-Adresse … Sag ihm, dass ich mich sofort mit ihm treffen will, noch heute Nacht.«
    »Ich kann nichts versprechen.« Er klang von Sekunde zu Sekunde slawischer. »Ist nicht meine Entscheidung.«
    »Stell dir nur mal vor, wie angepisst Kaya ist, wenn er erfährt, dass er Gobi verloren hat«, sagte ich. »Sie hat für ihn gearbeitet, stimmt doch? Und du solltest auf sie aufpassen. Mit anderen Worten: Du hast deinen Auftrag gründlich vermasselt. Was glaubst du wohl, was er mit dir macht, wenn er rauskriegt, dass du sie in der Schweiz verloren hast?« Ich wartete, zählte im Stillen bis zehn, ehe ich, fast nebensächlich, hinzufügte: »Besonders dann, wenn ich ihm sage, wo er sie finden kann?«
    Er verschränkte wieder die Arme und funkelte mich noch finsterer an, dann murmelte er etwas auf Russisch.
    Zwanzig Minuten später saßen wir in einem Zug.

35
    »This Is Not America«
    – David Bowie
    Am Bahnhof Lausanne wartete ein Wagen auf uns, ein metallicblauer Peugeot 306. Der Fahrer sagte kein Wort, als er mit uns aus dem Gewimmel hinaus in die Alpennacht fuhr. Durch getöntes Glas sah ich auf einem düsteren Weg mit jeder Menge Gefälle und Haarnadelkurven schneebedeckte Gipfel und Bergkuppen vorüberrauschen. Der Fahrer betätigte kaum die Bremsen und lenkte auch so gut wie nicht, als würde das Auto den Weg von alleine kennen. Auf dem Rücksitz neben mir brütete Swierczynski in übellaunigem osteuropäischen Schweigen, atmete deutlich hörbar durch seinen Bart und unternahm alles, was in seiner Macht stand, damit das teure Lederpolster wie ein ukrainischer Feinkostladen roch. Es wäre sicherlich angenehm gewesen, ein Fenster aufzumachen, aber draußen heulte der Wind inzwischen dermaßen stark, dass man den Eindruck hatte, es würde von Minute zu Minute kälter werden.
    Ich starrte hinaus auf die dunklen Berge.
    Ich dachte an meine Familie.
    Ich dachte an Gobi.
    Natürlich war mein Bluff, dass ich wüsste, wo sie war, nichts anderes als das: ein Bluff. Aber ich war schon aus schlimmeren Klemmen mit übleren Burschen als ihm