Wienerherz - Kriminalroman
die Vaterländische Front und ihre Vorfeldorganisationen meinen, vielleicht aber auch die Nationalsozialisten, deren Partei 1933 ebenso verboten worden war wie der Republikanische Schutzbund, die Kommunistische Partei und die Freidenker. Was für eine Zeit, dachte Freund und war froh, dass er heute lebte.
Lange hielt sich Cornelius Dorin nicht bei den Vorwürfen wegen des hintergründigen politischen Engagements seiner Verwandten auf. Offensichtlich hatte er in dieser Sache bereits resigniert.
In der Folge kommentierte er Geschäfte seines Vaters und des Bruders, von denen er in der Zeitung gelesen hatte. Soweit Freund das beurteilen konnte, durchschaute Cornelius dank seiner internen Kenntnis der Unternehmen sogar Winkelzüge, die Zeitgenossen zu diesem Zeitpunkt noch verborgen blieben. Auch zur kommenden politischen Entwicklung äußerte er sich überraschend hellsichtig, bevor er ein paar private Zeilen anfügte.
»Es geht mir gut, ich habe Arbeit.«
Die Situation der Erwerbstätigen in den frühen dreißiger Jahren war katastrophal gewesen, erinnerte sich Freund. Millionen in ganz Europa waren arbeitslos, viele bekamen als »Ausgesteuerte«, wie sie in Österreich genannt wurden, nicht einmal mehr Unterstützung vom Staat. Cornelius war nicht dazu erzogen worden, in den werktätigen Massen aufzugehen, schon gar nicht, wenn diese kein Werk zu verrichten hatten. Offensichtlich hatte es jedoch für eine Stelle gereicht. Worum es sich dabei handelte, erwähnte er nicht. Freund fragte sich, wie seine Familie die Situation empfunden haben mochte, die derlei Überlegungen wohl nicht anstellen musste. Er schrieb noch von einem Spaziergang durch den winterlichen Prater und schloss mit den Zeilen »Ich umarme und liebe Euch, trotz allem, Euer Cornelius«.
Hinweise auf Verbindungen zu Ereignissen, die fast achtzig Jahre später zum Tod von Cornelius’ Großneffen geführt haben könnten, fand Freund keine.
Er spürte die Erleichterung darüber, nun konnte er sich ganz entspannt den anderen Briefen widmen. Bis er den ersten Satz des ersten Briefs von 1929 las:
»Liebe Mutter,
sucht mich nicht, Ihr werdet mich nicht finden«.
Woran man sich erinnert
Pridlaschek war von einer Polizeistreife aufgegriffen worden, die seine Freunde abgeklappert hatte. Er war tatsächlich so dumm gewesen, sich bei einem zu verstecken, den Harnusson kannte. Seine Fingerabdrücke waren identisch mit jenen an Florian Dorins Bentley.
Er erwartete Freund mit einer Mischung aus Trotz und Sorge im Gesicht. Er versuchte lässig in seinem Stuhl zu lehnen, doch die vor der Brust verschränkten Arme signalisierten seine Anspannung.
Dieser Typ ist nicht so hart, wie er gern wäre, dachte Freund. Mal sehen, was ein Frontalangriff bewirkt.
Er setzte sich Pridlaschek gegenüber. Varic und Spazier sahen durch den Spiegel zu.
»Sie haben ein Problem«, eröffnete Freund. »Dienstagmorgen wurde Florian Dorin tot aufgefunden, der Freund Ihrer ehemaligen Freundin.«
Er wartete auf die Reaktion. Falls Pridlaschek Dorin nicht ermordet hatte, musste er nicht unbedingt von dessen Tod erfahren haben.
Tatsächlich wirkte Pridlaschek überrascht, versuchte es aber hinter schmalen Lippen zu verbergen.
»So? Ich werde ihn nicht vermissen«, erklärte er, weiterhin um die coole Fassade bemüht.
Freund sagte nicht, dass die Situation nach Selbstmord ausgesehen hatte. Je nervöser Pridlaschek wurde, desto eher würde er etwas sagen.
»An seinem Wagen haben wir Ihre Fingerabdrücke gefunden.«
Ein Zucken in Pridlascheks Gesicht zeigte Freund, dass sein Gegenüber begriffen hatte, worum es ging. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, aber er sagte nichts.
»Und dann sind Sie auch noch vor mir geflüchtet.«
Er machte eine Kunstpause, um die Bedeutung der Worte bei Pridlaschek einsinken zu lassen.
Fast unmerklich krümmte sich Pridlaschek noch tiefer in seine Abwehrhaltung. Hinter seiner grimmigen Miene erkannte Freund nun die Angst. Pridlaschek wog seine Optionen ab, bevor er aufsprang und rief:
»Wollen Sie mir einen Mord anhängen?«
Freund war peinlich berührt von der Schmierenkomödie, die der Typ vor ihm abzog. Am liebsten hätte er »Ja« gesagt. Stattdessen schwieg er und wartete, was Pridlaschek tun würde.
Der andere stand vornübergebeugt, die Hände auf den Tisch zwischen ihnen gestützt, und starrte Freund an.
»Ich habe nichts damit zu tun!«
Pridlascheks Verteidigungswälle bröckelten. Freund fixierte ihn weiter wortlos.
»Das
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