Wild wie das Meer (German Edition)
nicht, dass Sie überhaupt eines haben“, erwiderte sie aufgebracht.
Er kam wieder bedrohlich nah auf sie zu. „Vielleicht denken Sie in Zukunft zweimal nach, bevor Sie andere in ihre Ränke und Lügen mit hineinziehen, Miss Hughes. Und vielleicht machen Sie sich dann die Mühe, über die Folgen Ihrer Handlungen nachzudenken.“
„Vielleicht werde ich das beherzigen“, sagte Virginia, „aber hier geht es nicht mehr nur um mich. Ich kann nicht zulassen, dass Sie einen Mann von seinen Pflichten entbinden, der Sie für den größten Kommandanten auf hoher See hält, nur weil ich etwas Törichtes vorhatte. Er ist Ihr Freund, Captain O’Neill, ein Ihnen treu ergebener Freund!“
„Er war mein Schiffsarzt, und er hat mich verraten. Das nenne ich weder Freundschaft noch Loyalität. Er kann von Glück sagen, dass ich ihn nicht in Eisen legen lasse.“ Er war schon wieder an der Tür, hielt jedoch inne. „Warum? Warum dieser Fluchtversuch? Sie wären verloren in Irland. Haben Sie überhaupt über Ihren Plan nachgedacht? Ich habe Ihnen kein Leid zugefügt. Sehr bald schon werden Sie Ihren geliebten Onkel wiedersehen. Warum also das Wagnis der Flucht? Warum trotzen Sie mir?“
Virginia starrte ihn hilflos an. „Da ... mein ganzes Leben auf dem Spiel steht“, brachte sie stockend hervor.
Sie sah, dass ihre Worte ihm nicht gleichgültig waren. Er horchte auf.
Einen langen Augenblick schaute sie ihn an, bevor sie sich abwandte und am Tisch Platz nahm. Verzweiflung und Mutlosigkeit überkamen sie, und sie hörte, wie er wieder an den Tisch trat. Schließlich setzte er sich hin. „Wie haben Sie das gemeint?“
Doch sie weigerte sich zu antworten und schüttelte bloß den Kopf.
Da umschloss er mit seiner großen Hand ihr Gesicht und drehte es zu sich, sodass sie gezwungen war, ihrem Entführer in die Augen zu sehen. „Ich möchte es wissen.“
Sie zitterte. „Was kümmert es Sie?“, meinte sie unbeholfen.
Er zog die Hand zurück. „Gut, es geht mich nichts an. Aber Sie stehen unter meinem Schutz, und alles, was Sie anbelangt, geht mich etwas an.“
Sie vermochte nicht zu ergründen, warum er so viel Interesse an ihren persönlichen Angelegenheiten bekundete. Zwar glaubte sie nicht, dass ihr Schicksal ihn nachsichtiger stimmen würde, aber sie sah keinen Grund, länger zu schweigen. Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr, als sie an ihre armen Eltern denken musste. „Ich wurde auf Sweet Briar geboren“, begann sie mit leiser Stimme und schaute nicht zu ihm auf. „Es ist der Himmel auf Erden, eine Tabakplantage in der Nähe von Norfolk, Virginia. Mein Vater hat unser Haus mit eigenen Händen erbaut und die ersten Pflanzen allein gesetzt.“ Sie hob den Blick und lächelte ihn bekümmert an. „Ich liebte meine Eltern. Vergangenen Herbst kamen sie in einer stürmischen Nacht bei einem Kutschenunfall ums Leben.“
Er schwieg. Ob er überhaupt Anteil an ihrem schweren Schicksal nahm, vermochte sie nicht zu sagen, denn seine Miene blieb ausdruckslos.
„Ich bin das einzige Kind meiner Eltern. Sweet Briar gehört mir. Aber mein Vormund, der Earl, verkauft die Plantage, um die Schulden meines Vaters begleichen zu können.“ Sie legte die Hände flach auf den Tisch und drückte so lange, bis ihre Knöchel weiß wurden. „Dazu werde ich es nicht kommen lassen.“
O’Neill sah sie unverwandt an, und es dauerte einen Moment, ehe er etwas sagte. „Ich verstehe“, meinte er. „Sie wollen dem Earl also so lange zusetzen, bis er sich bereit erklärt, die Schulden Ihres Vaters zu begleichen, und Ihnen die Schlüssel zur Plantage überlässt.“ Die Ironie war nicht zu überhören.
Dennoch war dies ihre letzte Chance. Virginia umklammerte seine Hände und war überrascht, wie sie sich unter ihren kleinen Handflächen und Fingern anfühlten. Dabei entging ihr sogar das Erstaunen, das in seinen silbergrauen Augen aufflammte. Sie schaute auf und sprach schnell und heiser: „Wenn mein Onkel Lösegeld für mich bezahlen muss, werde ich ihn nie dazu bewegen können, die Schulden meines Vaters zu begleichen. Da er beschlossen hat, die Plantage zu verkaufen, ohne mich überhaupt nach meiner Meinung zu fragen, wird es auch ohne die Lösegeldforderung schon schwer genug für mich werden, ihn von seinem Vorhaben abzubringen! Captain, verstehen Sie denn nicht? Ohne Sweet Briar kann ich nicht überleben. Ich muss den Earl aufsuchen. Es darf keine Lösegeldforderung geben! Bitte, Mr. Harvey hat mir gesagt, Sie seien ein
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