Wild wie das Meer (German Edition)
Schnallenschuhen auf sie zu. „Sie stören keinesfalls, Miss Hughes“, erwiderte er lächelnd. „Immerhin ist es gleich Zeit für das Abendessen. Darf ich Ihnen einen Sherry oder einen Champagner anbieten?“
Sie kam nicht umhin, seine äußere Erscheinung zu bewundern. Mit dem beinahe schwarzen Haar und den hellgrauen Augen sah er ebenso gut aus wie sein älterer Bruder. Wie Devlin war auch er groß, hatte breite Schultern, lange Beine und schmale Hüften. Sein Leib wirkte genauso kraftvoll und gestärkt. „Ich würde gerne ein Glas Champagner nehmen“, sagte sie.
Rasch nahm er die gekühlte Flasche vom Sideboard und füllte zwei hohe geriffelte Gläser, von denen er ihr eines reichte. „Sie sehen bezaubernd aus, Miss Hughes, in diesem hübschen Kleid“, sagte er bewundernd.
Sie glaubte zu sehen, dass ihm eine flüchtige Röte in die Wangen stieg. „Sagen Sie Virginia zu mir, Mr. O’Neill, und vielen Dank für Ihre freundlichen Worte.“ Sie zögerte. „Dieses Kleid gehörte meiner Mutter.“
„Das mit Ihren Eltern tut mir leid“, sagte er sofort. „Sie dürfen Sean zu mir sagen.“
Sie zuckte zusammen und sah in freundliche graue Augen. „Sie wissen von dem Schicksal meiner Eltern?“, erkundigte sie sich.
„Dev erwähnte, Sie seien eine Waise.“
Sie nickte. „Sie kamen bei einem Kutschenunfall vergangenen Herbst ums Leben.“
„Manchmal fällt es einem schwer, Gottes Willen zu begreifen.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich an Gott glaube“, bekannte sie.
Seine Augen weiteten sich. „Wie bedauerlich. Aber ich gebe zu, dass es Augenblicke gab, in denen auch ich meine Zweifel hatte.“
Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Dann sind wir ja beide kritische Menschen.“
Er lachte.
Sie genoss sein herzliches und volles Lachen, das so ganz anders klang als der eigentümliche, beinahe heisere Laut, den Devlin beim Lachen von sich gab. Ihr Lächeln schwand. „Sie und er sind sich gar nicht ähnlich, nicht wahr?“
„Nein.“ Sean musterte sie.
„Wie ist das möglich? Sind Sie ungefähr in einem Alter?“
„Ich bin zwei Jahre jünger“, sagte Sean. „Devlin nahm mich unter die Fittiche, als unser Vater starb. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum wir unterschiedlich sind.“
„Und die anderen Gründe?“, fragte sie nach, fest entschlossen, so viel wie möglich über den Mann zu erfahren, der sie gefangen hielt.
Sein Lächeln war dünn, und er zuckte die Achseln.
„Ich verstehe ihn nicht“, gab sie zu. „Er ist sehr tapfer, so viel steht fest. Beinahe ohne Angst, möchte ich sagen ...“ – sie rief sich in Erinnerung, wie er dem Sturm getrotzt hatte, um sein Schiff zu retten –, „und das ist nicht gerade typisch menschlich, oder?“
„Er kennt keine Angst“, pflichtete Sean ihr bei. „Ich denke, es kümmert ihn nicht, ob er lebt oder stirbt.“
Virginia sah den Mann verblüfft an, denn diese Einschätzung war eigenartig. „Aber niemand wünscht sich den Tod!“
„Ich habe nicht behauptet, dass er den Tod sucht, sondern wollte zum Ausdruck bringen, dass der Gedanke an den Tod ihm nichts ausmacht.“
Sie dachte über diese Erklärung nach und gewann rasch den Eindruck, dass Sean recht hatte. „Aber warum? Welchem Menschen ist das eigene Leben so gleichgültig?“
Sean schwieg.
Virginia begriff mit einem Mal, dass es auf diese Frage nur eine Antwort geben konnte – nur ein Mensch, der tief verletzt oder über alle Maßen verbittert war, nähme eine solch gleichgültige Haltung dem eigenen Dasein gegenüber ein. Sie war erschüttert.
„Sie sind recht neugierig, wenn die Sprache auf meinen Bruder kommt“, stellte Sean fest.
„Ja, das bin ich. Immerhin enterte er das Schiff, auf dem ich reiste, und nahm mich gefangen. Ich kann einfach nicht verstehen, warum er Lösegeld für mich verlangen will, obwohl er gewiss kein Geld benötigt.“
„Vielleicht sollten Sie ihn selbst fragen“, meinte Sean.
„Ja, vielleicht werde ich das tun“, erwiderte sie nachdenklich, „allerdings glaube ich, dass er nur wieder zornig wird – er ist ein aufbrausender Mensch. Warum nur? Sie hingegen wirken nicht so von Zorn erfüllt. In Ihren Augen vermag ich Güte zu erkennen. Sie scheinen so mitfühlend zu sein, wie er rücksichtslos ist.“
Sean seufzte. „Es gibt einen wirklichen Unterschied zwischen uns. Als wir Kinder waren, mussten wir mit ansehen, wie unser Vater auf grausame Weise von einem englischen Offizier ermordet wurde. Devlin hat diesen Tag nie
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