Wilde Flammen
solltest dich jetzt besser anziehen«, sagte er freundlich, aber seltsam distanziert, als er von ihr zurücktrat. »Wir halten in der Stadt an, ich lade dich zum Frühstück ein.«
Seine Zurückhaltung verwirrte sie, doch vorerst war sie froh, dass er nicht mehr böse auf sie war. Also nickte sie. »Einverstanden.«
Der Frühling ging in den Sommer über, während der Zirkus weiter gen Norden zog. Die Tage wurden länger, Sonnenlicht fiel ins Hauptzelt, auch als schon die letzte Abendvorstellung begonnen hatte.
Es regnete nicht mehr so oft, dafür gab es kurze, heftige Sommergewitter mit Blitz und Donner. Im Juni zog der Circus Colossus über die Landesgrenze von North Carolina nach Tennessee.
In diesen Wochen wunderte Jo sich immer wieder über Keanes Verhalten ihr gegenüber. Sie empfand es als widersprüchlich und wusste es nicht zu deuten. Er war freundlich zu ihr, blieb aber unpersönlich. Sagte sie etwas Amüsantes, lachte er, beschwerte sie sich über etwas, hörte er aufmerksam zu. Doch jedes Mal errichtete er eine eindeutige Mauer zwischen ihnen.
Manchmal fragte sie sich, ob sie sich die Leidenschaft, die in jener Nacht zwischen ihnen aufgeflammt war, nicht nur eingebildet hatte. War das Verlangen, das sie in seinen Augen gelesen hatte, nur ein Wunschtraum ihrer Fantasie gewesen? Die Nähe, die ihrer Meinung nach zwischen ihnen geherrscht hatte, war inzwischen längst geschwunden. Sie waren nichts anderes mehr als ein Zirkusbesitzer und seine Artistin â eine rein geschäftliche Beziehung.
Zweimal während dieser Zeit flog Keane nach Chicago zurück. Bei der Rückkehr jedoch brachte er keine Geschenke mehr für Jo mit. Kein einziges Mal kam er zu ihr in den Wohnwagen. Sein verändertes Verhalten verwirrte sie immer mehr. Er war nicht verärgert, er war auch nicht kalt, sondern einfach nur ⦠freundlich.
Jo verstand es nicht. Ihr Herz blutete vor Sehnsucht nach ihm. Doch als Tag um Tag verging, wurde immer klarer, dass Keane offenbar doch kein persönliches Interesse an ihr hatte.
Am Vorabend der groÃen Show für den vierten Juli lag Jo schlaflos in ihrem Bett. Sie hielt den Gedichtband in der Hand, doch während sie las, musste sie immer wieder an die Leere denken, die sie in sich fühlte. Rastlos schlug sie das Buch zu und starrte an die Decke. Sie musste sich zusammennehmen. Es wurde Zeit, dass sie all das hinter sich lieÃ. Sie musste aufhören, so zu tun, als wäre Keane je Teil ihres Lebens gewesen. Wenn man jemanden liebte, dann wurde er nur Teil der eigenen Wünsche, nicht Teil des eigenen Lebens. Und Keane selbst hatte nie von Liebe gesprochen, hatte ihr nie etwas versprochen. Und er hatte auch nicht wirklich etwas getan, um sie zu verletzen.
Sie wünschte, sie könnte ihn hassen. Dafür, dass er ihr einen kurzen Blick auf ein erfülltes Leben gewährt hatte. Nur um sich dann zurückzuziehen.
Doch sie konnte es nicht. Jo stieà geräuschvoll die Luft aus den Lungen und fuhr nachdenklich mit einem Finger über den kostbaren Ledereinband. Ich hasse ihn nicht, aber es ist mir auch nicht erlaubt, ihn zu lieben, dachte sie. Was also fühle ich für ihn? Ich sollte dankbar sein, dass er mich nicht mehr will. Ich hätte mit ihm geschlafen, und dann wäre ich hundertmal schlimmer verletzt worden.
Konnte sie denn überhaupt hundertmal schlimmer verletzt werden?
Sie lag reglos da und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es war wohl besser, wenn sie es nicht herausfand. Keane war nett und freundlich zu ihr gewesen, als sie ihn brauchte. Und damit Schluss. Sie hatte gar nicht das Recht, etwas von ihm zu verlangen. Der Sommer würde schlieÃlich nicht ewig dauern. Vielleicht sah sie ihn nach der Saison nie wieder. Also würde sie die verbleibende Zeit mit ihm, so gut es ging, genieÃen.
Es waren die Ãberlegungen ihres Verstandes. Ihr Herz jedoch lieà sich davon nicht beruhigen.
9. K APITEL
Der Unabhängigkeitstag war für den Zirkus ein ganz normaler Arbeitstag. Zelte wurden in der neuen Stadt aufgestellt, die Parade zog durch die StraÃen, zwei Vorstellungen waren angesetzt. Doch zugleich war der 4. Juli auch ein Feiertag. Also wogten weiÃe, rote und blaue Federbüschel auf den Köpfen der Elefanten, und die Abendvorstellung begann eine Stunde früher, weil im Anschluss das jährliche Feuerwerk stattfinden sollte.
Ãber die Festtage
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