Wilder Als Ein Traum
stocherte zögernd in dem Federvieh herum. Zwar hatte sie einen Bärenhunger, aber bisher kannte sie Waldhühner einzig aus dem Zoo.
Wo hatte sie nur ihre Gabel hingelegt? Der hutzelige Gnom zu ihrer Linken hielt seinen Vogel in den Händen und riss mit seinen fauligen Zähnen Fetzen aus dem saftigen, weißen Fleisch. Fett rann ihm über das Kinn.
Erschauernd blickte Tabitha unter den Tisch, da sie meinte, dass ihr in ihrer Verwirrung die Gabel vielleicht entfallen war. Lucy nutzte die Gelegenheit, stürzte sich auf ihr Mahl und zerrte es ins Gras. Tabithas Magen knurrte jämmerlich, als sie beobachtete, wie die Katze ihr Abendbrot verschlang.
Seufzend brach sie ein Stück von dem altbackenen Brot ab und schob es sich lustlos in den Mund. Anscheinend war nicht nur sie von Lucys unstillbarem Appetit fasziniert. Was Tabitha als unter einem der Tische liegendes Lumpenbündel angesehen hatte, stellte sich als Kind heraus, dessen große Augen man unter dem Filz blonder Haare nur mit Mühe sah. Aus Sehnsucht nach Gesellschaft lächelte Tabitha dem kleinen Mädchen freundlich zu, woraufhin es sich jedoch so furchtsam in der Dunkelheit zusammenkauerte, als hätte sie es angefaucht.
Jemand reichte ihr einen angeschlagenen Krug. »Honigwein, Mylady?«
Ehe Tabitha auch nur danke sagen konnte, war ihr unsichtbarer Wohltäter schon wieder fort.
Anscheinend galt sie aufgrund von Colins anmaßender Erklärung bereits als Burgherrin. Man hatte sie an den Ehrentisch gesetzt, bot ihr nun die besten Bissen mit einer Unterwürfigkeit an, die sie gleichermaßen alarmierte und belustigte.
Vor dem Essen hatte Magwyn sie mit einem Kleid und einem Band für ihre kurzen Haare ausstaffiert. Obgleich Tabitha ihren zerrissenen Pyjama gerne los geworden war, trug sie normalerweise lieber Hosen als Kleider. Sie strich sich über eine ihrer nackten Waden und bedauerte, sich nicht einen Rasierer gewünscht zu haben, bevor Colin ihr das Amulett abschwatzte. In dem fließenden Kleid fühlte sie sich auf eine absurde Weise feminin. Und leider auch verwundbar - vor allem, da sie ihre Baumwollunterhose mit ausgezogen hatte, ehe sie begriff, dass es ganz sicher keine neue gab.
Zumindest hatte sie daran gedacht, ihre Brille aus der Tasche des Pyjamaoberteils zu nehmen, bevor Magwyn mit dem Kleidungsstück verschwunden war. Sie betastete die tröstlich vertrauten Umrisse in der Tasche ihres Rocks. Bis sie Colin dazu bewegen könnte, das Amulett wieder herauszurücken, wäre die Brille das Einzige, was ihr von zu Hause blieb.
Sie nippte an dem Honigwein und verzog angesichts der schweren Süße angewidert das Gesicht. Der hochwohlgeborene Herr von Ravenshaw glänzte noch durch Abwesenheit.
Ein sommersprossiger Junge, der dünn genug war, um als Statist in einem Stück über die irische Hungersnot mitzuspielen, trat vorsichtig an sie heran. »Eintopf, Mylady?«
»Ja, bitte, vielen Dank.« Tabitha fürchtete, es wäre unklug, wenn sie angebotenes Essen ablehnte; außerdem duftete das Gericht in dem Eisentopf unter dem Arm des Jungen wirklich verführerisch.
Die Kelle voll dampfender Suppe in der Hand, starrte der Junge entgeistert auf den Tisch. »Weshalb habt Ihr Euer Brot gegessen?« fragte er.
Sie senkte den Kopf und machte dort, wo das Brot gelegen hatte, nur noch ein paar Krumen aus. »Weil ich Hunger hatte.«
»Aber wo soll jetzt Euer Eintopf hin?«
Tabitha wurde puterrot. Offenbar hatte sie eben einen törichten Fauxpas begangen und ihren Teller aufgegessen. »Egal. Ich bin sowieso schon satt«, behauptete sie.
Der Junge ging kopfschüttelnd davon, und Tabitha stützte traurig ihr Kinn in eine Hand. Dieses Essen kam ihr nicht viel anders vor als die unerträglichen Bankette, die ihr Vater alljährlich an Weihnachten für die Vorstandsmitglieder seines Unternehmens gab. Sie hatte immer das Unpassende gesagt, die wohlhabendsten Aktionäre beleidigt oder die falsche Gabel benutzt. Nun, Letzteres wäre hier zumindest kein Problem.
Zwei kräftige Knaben rannten, mit Stöcken bewehrt, um ihren Tisch herum. Ihr Schau-Schwertkampf trug ihnen den Beifall der anderen Jungen und das Gelächter ihrer Mütter ein. Eine Gruppe Kleinkinder stolperte krähend um ein knisterndes Lagerfeuer, irdene Krüge mit Bier und Honigwein wurden gut gelaunt entlang der sieben Tische weitergereicht, das Essen war schlicht, aber reichlich, und alle hatten daran Teil.
Ihre Ausgelassenheit weckte in Tabitha ehrliche Verwunderung. Sie konnte wochenlang darüber
Weitere Kostenlose Bücher