Wilder Als Ein Traum
grübeln, warum ein
Computervirus die Arbeit eines Tages zunichte gemacht hatte, und diese Frauen hatten alles verloren - ihr Zuhause, ihre Männer, die Unschuld ihrer Töchter - und trotzdem feierten sie die Rückkehr ihres Herren ohne auch nur eine Spur von Selbstmitleid.
Ein dunkelhaariger Junge zupfte auf einer Art Harfe eine leise Melodie, und auf Drängen seiner Mutter hob ein kleines Mädchen eine Pfeife an seinen hübschen Mund. Die Klänge beider Instrumente stiegen mit zu Herzen gehender Süße in den dunklen Himmel auf. Im einundzwanzigsten Jahrhundert hätte man das Lied sicher als New Age klassifiziert - doch in Wirklichkeit war es zeitlos wie die Sterne selbst. Für Tabitha klang es wie die Hymne eines guten Zauberers oder wie das verführerische Wispern eines Feenkönigs, der eine Sterbliche in sein Bett zu locken trachtete.
Alarmiert schob sie ihren Weinkrug fort. Offenbar stieg ihr das Gebräu bereits zu Kopf.
Ein anderes Bürschchen schlug auf einem mit Kalbsleder bespannten Eisentopf den Takt, und als plötzlich ein ganz in Schwarz gehüllter Fremder den Hügel herunterschritt, verband sich das Klopfen von Tabithas Herzen mit dem primitiven Trommelschlag.
12
Es war wie in Die Schöne und das Biest. Wie betrogen hatte sich das arme Mädchen sicherlich gefühlt, als sich ihr Zottelungeheuer plötzlich in einen Prinzen verwandelte, dachte Tabitha, während sie Colin musterte.
Immer noch sah er nicht gerade wie ein Traumprinz aus;
aber in der dunklen Hose, die sich um seine muskulösen Waden spannte, und der elfenbeinfarbenen Tunika mit dem silbernen Rabenemblem, die um seine breiten Schultern lag, hätte er durchaus ein entfernter Verwandter des Schwarzen Ritters sein können. Er war sogar rasiert.
Den Dolch des Schottenmörders hatte er sich wie ein Ehrenabzeichen in seinen Gürtel gesteckt, und seine Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, die er in einem Lederband hinter dem Kopf zusammenhielt. Tabitha verspürte den lächerlichen Drang, zu ihm zu laufen, ein paar Strähnen daraus zu lösen, seine Tunika zu zerknittern und ihm etwas Dreck auf die Nase zu schmieren, damit er weniger elegant wirkte.
Während sie beobachtete, wie er sich durch das Gedränge schob, alte Freunde begrüßte, harmlose Streitigkeiten schlichtete, hier jemandem auf die Schulter klopfte und dort jemandem aufmunternd zulächelte, leerte sie unbewusst in einem Zug ihren Krug. Allmählich begann sie zu verstehen, weshalb er selbst inmitten von Brisbanes Verwüstung ein derartiges Selbstvertrauen ausstrahlte. In seinem kleinen Reich war er der Herr und vertrat gleichzeitig das Gesetz. Obgleich er durch den frühzeitigen Tod seines Vaters in diese Position gelangt war, saß er dort mit der Sicherheit eines Mannes, dem die Führung zustand. Besäße sie wohl auch nur die Hälfte seiner Ausstrahlung, wenn sie gezwungen wäre, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten? Das erschien ihr mehr als zweifelhaft.
Er blieb stehen und hob die klauenartige Hand eines errötenden alten Weibes an seinen Mund. Als er sich wieder aufrichtete, begegnete er über dem Kopf der Alten Tabithas Blick. Eine seiner Wangen wies ein geradezu spitzbübisches Grübchen auf. Sie spürte, dass er an diesem Ort wirklich gefährlich
für sie wäre - vor allem, falls er bei der Behauptung, sie wäre seine Frau, bliebe.
Wie hatte sie noch bei ihrer ersten bedrohlichen Begegnung drauflos geschnattert? Oder was? Schleppt Ihr mich dann vielleicht auf Eure Burg, um mich zu vergewaltigen? Die Bemerkung wirkte nicht mehr ganz so scherzhaft wie in dem Augenblick, als sie ihn für George Ruggles aus der Buchhaltung gehalten hatte. Oder als sie wenigstens noch mit einer Unterhose bekleidet gewesen war.
Colin kam direkt auf sie zu. Hätte er ihr nicht die Kette abgenommen, hätte sie sich sicherlich gewünscht, unsichtbar zu sein.
»Mylady«, murmelte er und nahm ihr gegenüber Platz.
»Mr. Ravenshaw«, antwortete sie steif. Ganz sicher nannte sie ihn nicht Mylord!
»Findet Ihr Gefallen an dem Fest?«
Sie hätte nicht sagen können, weshalb sein nachdenkliches Lächeln sie derart wütend machte, aber sie erwiderte: »Ich habe weder das Silber noch sonst etwas gestohlen, falls Sie das meinen. Hätte sich auch ziemlich schwierig erwiesen, da es schließlich nicht einmal Besteck gibt.«
»Ist das der Grund für Eure schlechte Laune?«
»Ich habe keine …« Ihr empörter Protest erstarb auf ihren Lippen, als sie merkte, dass sie wirklich schlechter Laune war.
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