Wildes Herz
wahrscheinlich wieder mit deinem Messer bedrohen, oder?«
Entrüstet stemmte sie die Hände in die Hüften, doch auch wenn er lachend über die Sache hinweggegangen war, machte sie sich noch immer Sorgen. Ohne warmen Mantel würde Brendan nicht über den Winter kommen.
Die ansteigende Straße vor ihnen führte in einem weiten Bogen zu einem Einschnitt hinauf, der zwei Hügelgruppen trennte. Als sie kurz darauf über diesen Sattel kamen, fiel ihr Blick auf ein Fuhrwerk, das auf der anderen Seite hinter der recht scharfen Biegung von der matschigen Straße abgekommen war. Die Kutsche hing mit der rechten Seite halb im Graben und saß mit den Rädern bis über die Naben tief im Schlamm. Es hätte nicht viel gefehlt, und der Wagen wäre vollends auf die Seite gekippt.
Die gefährliche Neigung hatte jedoch schon ausgereicht, um unter dem Druck der Ladung die Abdeckplane aufreißen, das obere Seitenbord bersten und einen Gutteil der Fracht von der Ladefläche rutschen zu lassen. Die beiden Zugpferde waren ausgespannt worden, um nicht mitgerissen zu werden, falls der Wagen doch noch gänzlich auf die Seite kippte.
Das Fuhrwerk hatte kleine 10-Gallonen-Fässer geladen, von denen jetzt gute zwei Dutzend im Dreck des Straßengrabens verteilt lagen. Zwei Männer stampften fluchend durch den Schlamm, zogen die Fässer aus dem Matsch und wuchteten sie hinter dem schräg im Graben hängenden Fuhrwerk auf die Straße. Denn bevor sie damit beginnen konnten, die Fässer wieder aufzuladen, mussten sie den Wagen erst einmal wieder auf die Straße bringen, das gesplitterte Seitenbrett notdürftig reparieren und auf der Ladefläche wieder Ordnung in die restliche, verrutschte Fracht bringen. Die Männer hatten also noch ein gutes Stück Arbeit vor sich.
Vor dem verunglückten Fuhrwerk hatte eine braun lackierte Kutsche angehalten. Die beiden ausgespannten Pferde waren an das rund gebogene Eisengestänge der Gepäckhalterung gebunden, die auf die Rückseite der Kabine montiert war und unter den breiten Lederriemen eine schwere wetterfeste und mit Eisenbändern beschlagene Reisekiste barg. Der Kutschenschlag stand offen, und jemand hockte dort auf der ausgeklappten Treppe und war seelenruhig damit beschäftigt, etwas in ein ledergebundenes Buch zu schreiben.
Éanna war noch so in Gedanken, dass sie sowohl dem Fuhrwerk als auch der Kutsche und dem Mann auf der Trittstufe nur flüchtige Beachtung schenkte. Doch als sie sich schon fast auf der Höhe des Fuhrwerks befanden, hob Éanna den Kopf und schenkte dem fremden Mann in dem offen stehenden Kutschenschlag einen aufmerksameren Blick.
Im nächsten Moment traf sie fast der Schlag. Denn der Reisende, der da auf der Trittstufe der Kutsche hockte und zu ihr herüberblickte, war ihr ganz und gar nicht fremd, sondern der junge Herr, dem sie in Ballinasloe den Spazierstock hatte stehlen wollen!
Zwanzigstes Kapitel
Unwillkürlich blieb Éanna stehen und starrte zu Patrick O’Brien hinüber, der ihren Blick mit einem nicht weniger überraschten Gesichtsausdruck erwiderte.
»Was ist?«, fragte Brendan verwundert.
Bevor sie ihm antworten konnte, rief Patrick O’Brien ihr auch schon mit fröhlichem Spott zu: »Schau an, wer da heranspaziert kommt! Wenn das nicht Éanna Sullivan ist! Bei Gott, der Tag mag grau und triste sein, aber an Überraschungen mangelt es heute wahrlich nicht!«
»Der Kerl kennt dich?«, stieß Brendan verblüfft hervor. »Sag bloß, das ist euer einstiger Grundherr?«
Éanna schüttelte den Kopf. »Nein, aber das erkläre ich dir später«, raunte sie ihm zu und ging nun rasch weiter. Als sie das Fuhrwerk passierten, sah sie, dass auf jedem der Fässer ein weißer, mit Schablone aufgetragener zweizeiliger Schriftzug aufgemalt war. Die obere Zeile trug den Namen Black Cloud und darunter stand Edmund Wexford Brewery – Dublin . Sie fragte sich, ob dieser Brauereibesitzer Edmund Wexford womöglich der Onkel war, von dem Patrick O’Brien in der Taverne von Ballinasloe gesprochen hatte. Und ob er wohl in dessen Geschäften mit den Fässern unterwegs war, die offensichtlich Dunkelbier enthielten.
»Es freut mich, dich noch immer auf freiem Fuß zu sehen, Éanna Sullivan«, fuhr Patrick O’Brien mit einem vergnügten Schmunzeln fort. »Dann scheinst du dir ja meinen Rat zu Herzen genommen und dich auf klügere Betätigungen verlegt zu haben.«
»Ich weiß nicht, ob Ihr schon mal davon gehört habt, aber man nennt das ganz schlicht betteln, Mr O’Brien«, erwiderte
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