Will Gallows – Der Schrei des Donnerdrachen (German Edition)
das Zauberbuch von Onkel Wilder Wolf dabeigehabt hätte! Erst kürzlich hatte ich ein ganzes Kapitel über Heilungen gelesen. Aber jetzt konnte ich mich nur noch an kleine Bruchstücke davon erinnern. Es war einfach zu viel Stoff gewesen. Kein Wunder, dass es nur so wenige gab, die die schwere Ausbildung zum Medizinmann bis zum Ende schafften. Mein Onkel sagt immer: Viele versuchen es, aber nur wenige kommen durch. Die erbliche Veranlagung ist wichtig, ja, aber ein richtiger Medizinmann findet erst in der Ausbildung seinen eigenen Weg. Ein Häuptling wird von den Stammesmitgliedern gewählt, aber ein Medizinmann wird von den Geistern ernannt. Letztendlich bestimmen sie darüber, wem sie dieses schwere Amt anvertrauen.
Mehr als ein paar heilende Zauberkräuter hatte ich nicht dabei. Sie steckten in einer kleinen Seitentasche an Moonshines Sattel. Ich holte sie heraus. Dann knüpfte ich mein Halstuch auf und zeigte es dem Drachenbaby.
»Das Beste, was ich für dich tun kann, ist, die Wunden zu verbinden und ein paar Heilkräuter daraufzulegen. Wenn du mich lässt, kann ich zumindest die Blutungen stoppen.«
Das Drachenmädchen gab ein leises Jaulen von sich. Sie hatte zwar nichts gesagt, aber ich spürte, dass sie einverstanden war. Langsam schob ich mich näher an sie heran und kniete schließlich neben ihrem verletzten Flügel. Falls ich ihre Reaktion falsch gedeutet hatte, dann würde ich im nächsten Augenblick entweder gegrillt oder von messerscharfen Zähnen durchbohrt werden. Aber nein, sie ließ mich in Ruhe. Ich legte die Zauberkräuter auf die Wunden an ihrem Flügel und versuchte gleichzeitig, nicht an die Gefahr zu denken. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, einen möglichst festen Knoten zu machen, damit sich der Verband nicht löste, wenn sie den Flügel bewegte. Sie stieß ein schrilles Quieken aus, als ich den Knoten festzurrte, aber sie ließ mich weitermachen. Nur ab und zu stiegen ein paar kleine Rauchwolken aus ihren geweiteten Nüstern. Erst jetzt bemerkte ich die anderen Wunden am Körper des Drachen. Das Herz wurde mir schwer. Sie hatte eine ganze Salve abbekommen, wahrscheinlich aus einer Wynchester-Prärieflinte. Meine Befürchtungen hatten sich bestätigt: Der verletzte Flügel allein war zwar schon schlimm genug, aber deswegen wäre der kleine Drache nicht abgestürzt. Doch er hatte weit mehr als nur diese eine Wunde zugefügt bekommen.
Behutsam streute ich noch mehr Heilkräuter darauf, genau so, wie Onkel Wilder Wolf es mir beigebracht hatte. Ich konzentrierte mich, hielt die geöffneten Handflächen über die verletzten Stellen und fing an, einige magische Worte in der Elfensprache zu singen, zumindest die, an die ich mich erinnern konnte.
»Geh«, sagte sie plötzlich mit schwacher Stimme.
»Aber hier an der Seite sind noch so viele Wunden. Ich will dir doch nur helfen.«
»Sofort!«, sagte sie bestimmt. Ich spürte einen Stich der Enttäuschung. Warum war sie denn so undankbar? Ich wollte etwas sagen, doch meine Worte wurden von einem ohrenbetäubenden Donner übertönt. Der Boden unter meinen Füßen zitterte, ein schwarzer Schatten schob sich vor die Sonne und wurde größer und größer.
Ein erwachsener Donnerdrache raste genau auf mich zu.
Mein Pa hatte mir erzählt, dass sie dieses donnernde Brüllen nur ausstoßen, wenn sie sehr, sehr wütend sind. Da Donnerdrachen normalerweise sehr scheue Geschöpfe sind, bekommt man den Donnerschrei auch nur sehr selten zu hören. Es war jedenfalls das erste Mal, dass ich ihn hörte, aber ich würde ihn garantiert nie wieder vergessen.
Der Drache kam auf mich zugestürzt, immer näher und näher, und ich sah seine vorderen Klauen, die wie gigantische Stalaktiten aus der Mitte seiner mächtigen Flügel hervorstachen. Aus seinem Hinterkopf ragten zwei riesige schwarze Hörner – es war ein Männchen.
»Das ist mein Vater, Thoryn, der Mächtige. Er wird dich umbringen. Du musst fliehen!«, rief das Drachenbaby.
Moonshine wieherte laut. »Komm schon, Will, Beeilung. Ich brauche einen Vorsprung, sonst habe ich keine Chance gegen so ein Riesenvieh.«
Das Drachenmädchen stieß ein quiekendes Geräusch aus, und sein Vater antwortete mit einem erneuten, trommelfellzerfetzenden Gebrüll.
Mir stockte das Blut in den Adern, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich jagte hinüber zu Shy, die sich sofort niederkniete und mich in den Sattel springen ließ.
Inmitten der Staubwolke, die durch die mächtigen Flügelschläge des
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