Wilsberg 14 - Wilsberg und der tote Professor
küsste, berührte ich mit der Hand ihre Gesicht, fühlte ihre sanfte, weiche Haut. Sie legte ihre Hand auf meine Brust und ich ließ meine Finger über ihren Körper wandern.
Die Zeit machte einen Aussetzer. Ich weiß nicht, wie lange wir nebeneinander saßen und uns küssten, nur, dass wir irgendwann in mein Schlafzimmer gingen und das nachholten, wovon ich in der ersten Nacht in ihrem Haus geträumt hatte.
XII
Das riesige Areal des Zentralfriedhofs musste jedem Grundstücksmakler wie eine gigantische Verschwendung vorkommen. Es gab keine bessere innerstädtische Lage, der Zentralfriedhof erstreckte sich zwischen Aasee und Schlosspark, Sentruper Höhe und dem Gelände des alten Zoos, von dem noch ein paar kümmerliche Mauerreste im Parkambiente übrig geblieben waren, in dem Teil, den das protzige weiße Bankgebäude nicht besetzt hatte. Mit herrschaftlichen Villen und luxuriösen Apartmentgebäuden hätte man in dieser Gegend viele Millionen verdienen können, stattdessen waren ihre Bewohner nicht nur mittellos, sondern auch eine Ewigkeit davon entfernt, den Luxus genießen zu können.
Ich blieb vor der Gedenkstätte für Schwester Euthymia stehen. Unter dem Dach des auf einer Seite offenen Gebäudes befanden sich an die hundert Blumensträuße und ebenso viele Grablichter, die Blumensträuße dicht nebeneinander, die Grablichter im exakten Abstand von zwanzig Zentimetern, wie es eine an der Seitenwand angeschlagene Vorschrift forderte. Früher, als Euthymia noch nicht selig gesprochen war und ihr Grabstein unter dem freien Himmel stand, hatten die ungeordnet abgelegten und abgestellten Sträuße und Kerzen mehr als einmal zu einem offenen Brand geführt. Jetzt hatte Euthymia ein Dach über dem Kopf und die Grablichter brannten in mustergültiger Ordnung.
Zwei ältere Paare, mit und ohne Gehhilfen, ein Mann mit kurzer Hose und rotem Schlips und zwei steinerne Frömmigkeit ausstrahlende Frauen verharrten in stiller Andacht. Längst hatte die 1914 im münsterländischen Halverde als Emma Üffing geborene Euthymia den anderen münsterschen Vorzeigekatholiken, Kardinal von Galen, von Platz eins der Verehrungshitliste verdrängt. Und doch hatten beide etwas Gemeinsames, nämlich einen Hauch von Widerstand in der Nazizeit. Während von Galen gegen das Euthanasieprogramm Hitlers wetterte, pflegte die dem Orden der Clemensschwestern angehörende Euthymia als Krankenschwester Kriegsgefangene und Fremdarbeiter, die sie dafür zum Engel der Liebe erkoren. Nach dem Krieg brachte es Euthymia noch bis zur Leiterin der Wäscheabteilung in der Raphaelsklinik, bevor sie ein früher Tod endgültig in die Hall of Fame der katholischen Kirche beförderte, offiziell besiegelt durch die päpstliche Seligsprechung im Oktober 2001.
Ich schaute zum platanengesäumten Weg, auf dem sich der Trauerzug näherte. Zur Trauerfeier in der außerhalb des Friedhofs gelegenen Kapelle war ich zu spät gekommen. Ich hatte schlicht und einfach verschlafen. Als ich aufgewacht war, hatte neben mir nur ein Zettel gelegen: Bis bald! Marie.
Nach meiner Schätzung hatte ich gut drei Stunden geschlafen. Die Dämmerung war längst in einen trüben, Wolken verhangenen Tag übergegangen, als mir die Augen zufielen. Bis dahin hatten wir uns geliebt, mehr oder weniger zusammenhanglos geredet und wieder geliebt. Die Nacht war wunderschön gewesen und trotzdem gab mir der Zettel einen Stich. Er wirkte wie die Eintrittskarte für einen Kinofilm – nach der Vorstellung.
Vermutlich hatte Marie überhaupt nicht geschlafen, sondern sich gleich angezogen, nachdem ich eingeschlafen war. Ich hätte lieber mit ihr gefrühstückt – oder zumindest einen Espresso getrunken – und mir von ihr versichern lassen, dass es kein Film war, den ich erlebt hatte. Aber ich verstand auch, dass es an diesem Tag in ihrem Leben Wichtigeres gab.
Ich versuchte, ihren Blick einzufangen, doch sie hielt den Kopf gesenkt und folgte dem Priester und den Sargträgern, sechs älteren Männern, die den Sarg nicht trugen, sondern auf einer schwarz gestrichenen Metallkarre schoben. An Maries Händen hingen ihre Kinder, beide mit bleichen, ängstlichen Gesichtern, überfordert von der Inszenierung und der Vorstellung, dass ihr Vater in der braunen Kiste lag. Hinter Marie ging ein älteres Ehepaar, das ich für ihre Eltern hielt. Etwas seitlich, auf Distanz bedacht, trottete Daniel Kaiser. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung waren eine Art posthumer Protest gegen den ungeliebten
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