Winslow, Don
Familien, die Wände aus Blechen,
Sperrholzresten und zerbrochenen Schlackesteinen errichten. Parada hat alte Zelte
aufgetrieben - indem er der Armee die Hölle heißgemacht hat, vermutet Keller -,
auch ein provisorisches Lazarett eingerichtet und eine Suppenküche. Ein paar
Bretter auf Sägeböcken dienen als Serviertisch, eine Propangasflasche liefert
die Flamme unter dem dünnen Blech, auf das ein Priester und ein paar Nonnen
die Töpfe stellen. Wenige Meter entfernt werden auf einem Rost über offenem
Feuer Tortillas gebacken.
Keller betritt das große Sanitätszelt. Krankenschwestern waschen Kinder
und tupfen ihnen die Oberarme für die Tetanusspritze ab. Aus einer Ecke kommt
Kindergeschrei. Dort entdeckt er Padre Juan, der versucht, ein Mädchen mit Verbrennungen
am Arm zu trösten.
»Das fruchtbarste Opiumland der westlichen Welt«, sagt er, »und wir haben
nichts, um die Schmerzen der Kinder zu stillen.«
»Wenn ich könnte, würde ich mit ihr tauschen«, sagt Keller.
Parada mustert ihn mit
einem Seitenblick. »Schade, dass es nicht geht.« Er küsst das Mädchen auf die
Wange. »Jesus hat dich lieb.«
Das ist nun alles, was ich gegen ihre Schmerzen tun kann, denkt Parada. Und es gibt
noch schlimmere Fälle. Manche Männer wurden so schwer misshandelt, dass ihnen
Arme und Beine amputiert werden müssen. Und das nur, denkt Parada, weil die
Amerikaner ihren Appetit auf Drogen nicht zügeln können. Sie verbrennen den
Mohn, und sie verbrennen die Kinder. Lieber Jesus Christus, jetzt könnten wir
dich hier gebrauchen.
Keller folgt ihm durchs Zelt.
»Von wegen >Jesus hat dich lieb<«, brummelt Parada. »An Tagen wie
diesem frage ich mich öfter, ob das nicht alles Blödsinn ist. Was führt dich
hierher? Das schlechte Gewissen?«
»Könnte man sagen.«
Keller holt Geld aus der Tasche, sein letztes Monatsgehalt, und bietet es Parada an.
»Für Medikamente«, sagt er.
»Gott segne
dich.«
»Ich glaube
nicht an Gott«, erwidert Keller. »Macht nichts«, sagt Parada. »Er glaubt an
dich.« Dann, denkt Keller, ist er ein ganz schöner Trottel.
2 Die wilden Iren
Where e'er we go, we
celebrate
The land that makes us
refugees,
From fear of priests
with empty plates
From guilt and weeping
effigies.
Shane MacGowan,
Thousands Are Sailing
Hell's Kitchen New York
City
1977
Callan ist mit blutrünstigen Geschichten groß geworden.
Cuchulain, Edward Fitzgerald, Wolfe Tone, Roddy McCorley, Pádraic Pearse, James
Connelly, Sean South, Sean Barry, John Kennedy, Bobby Kennedy, Bloody Sunday, Jesus Christus.
Der dicke rote Sud aus irischem Nationalismus und Katholizismus oder
irisch-katholischem Nationalismus oder irischem Nationalkatholizismus. Ganz
egal. Die Wände zu Hause und in der Schule sind mit grusligen Märtyrerbildern
gespickt: Roddy McCorley, erhängt an der Brücke von Toome; James Connelly, an
den Stuhl gefesselt und dem britischen Erschießungskommando ausgeliefert; der
heilige Timotheus, gespickt mit Pfeilen, der arme Wolfe Tone, der sich mit dem
Rasiermesser den Hals aufschnitt, aber statt der Halsschlagader die Luftröhre
traf - jedenfalls starb, bevor sie ihn hängen konnten; John und Bobby Kennedy,
die vom Himmel runtergucken - und Jesus am Kreuz.
Natürlich gibt es in der Schule auch die zwölf Kreuzwegstationen.
Christus, ausgepeitscht, Christus mit Dornenkrone, Christus, das Kreuz
schleppend, Christus mit durchbohrten Händen und Füßen. (Als Callan noch sehr klein
war, hat er seine Schwester gefragt, ob Christus Ire war, worauf sie seufzend
erwiderte: Nein, aber er hätte es sein können.)
Jetzt ist er siebzehn, sitzt mit seinem Buddy O-Bop im Liffey Pub in der 47th Street, Ecke Twelfth und trinkt Bier.
Außer ihnen und dem Barmann Billy Shields ist nur noch Little Mickey
Haggerty vertreten, er hockt am anderen Ende der Bar und lässt sich ordentlich
volllaufen, bevor er seinem Haftrichter gegenübertritt, der acht bis zwölf
Jahre Knast zwischen dieses und das nächste Besäufnis schieben will. Little
Mickey kam mit einer ganzen Rolle Quartermünzen rein, die er alle in die Jukebox
schob, um dann immer auf denselben Knopf zu drücken. E -5. Also säuselt Andy Williams schon eine ganze Stunde lang »Moon River«, doch
die beiden Jungs sagen nichts, weil sie wissen, dass Little Mickey wegen Geiselnahme
in den Bau muss.
Es ist August in New York, einer dieser
Es-ist-nicht-die-Hitze-es-ist-die-Feuchtigkeit-Nachmittage, wenn einem das Hemd
am Rücken klebt wie die
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