Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Kinder an der gleichen Krankheit gelitten, oder gab es Unterschiede?«
»Es gab Unterschiede.« Willrich schlug eine Akte auf seinem Schreibtisch auf. »Idiotie, Mikrocephalie, Hydrocephalus, Missbildungen jeder Art und Lähmungen.«
»Es waren also solche Patienten, die Sie auf Befehl nach Akelberg geschickt haben.«
Carla staunte über den Pastor. Hatte sie ihm unrecht getan? Das war die erste Erwähnung von Akelberg und zugleich die Andeutung, dass Willrich seine Befehle von höherer Stelle bekommen hatte. Wie es aussah, war Ochs doch gerissener, als sie gedacht hatte.
Willrich öffnete den Mund, um zu antworten, doch Ochs kam ihm mit einer weiteren Frage zuvor: »Sollten alle die gleiche Sonderbehandlung erhalten?«
Willrich lächelte. »Noch einmal: Da mich niemand darüber informiert hat, kann ich es Ihnen auch nicht sagen.«
»Sie haben also einfach nur gehorcht …«
»Ja, ich habe Befehle befolgt.«
Ochs lächelte. »Sie sind ein sehr kluger Mann. Sie wählen Ihre Worte mit Bedacht. Waren es Kinder aller Altersgruppen?«
»Ursprünglich war das Programm auf Kinder unter drei Jahren beschränkt. Später wurde es auf alle Altersgruppen ausgeweitet.«
Carla fiel das Wort »Programm« auf. Das hatte bis jetzt noch niemand zugegeben. Ochs war wirklich gerissen.
Er formulierte den nächsten Satz nicht als Frage, sondern so, als wolle er nur etwas bestätigen, was bereits bejaht worden war. »Undall die behinderten jüdischen Kinder waren ebenfalls Teil des Programms, ungeachtet der Natur ihrer Behinderung.«
Kurzes Schweigen. Willrich blickte entsetzt drein. Carla fragte sich, woher Ochs von den jüdischen Kindern wusste. Aber vielleicht war es ja nur geraten.
Nach einer kurzen Pause fügte Ochs hinzu: »Ich hätte wohl besser sagen sollen, jüdische Kinder und Kinder aus Mischlingsehen.«
Willrich sagte kein Wort, nickte nur knapp.
Ochs fuhr fort: »Dieser Tage ist es äußerst ungewöhnlich, wenn ein jüdisches Kind bei der Behandlung bevorzugt wird, nicht wahr?«
Willrich wandte sich ab.
Der Pastor stand auf. Als er wieder das Wort ergriff, bebte seine Stimme vor Zorn. »Sie haben mir erzählt, dass zehn Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen, die unmöglich von derselben Therapie profitieren konnten, in ein Spezialkrankenhaus verlegt worden sind, aus dem nie jemand zurückgekehrt ist, und jüdische Kinder wurden bevorzugt verschickt. Was, glauben Sie, ist mit den Kindern passiert, Herr Professor Doktor Willrich? In Gottes Namen, was haben Sie sich dabei gedacht? «
Willrich sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Natürlich dürfen Sie zu der Sache schweigen«, sagte Ochs, wieder ein wenig ruhiger. »Eines Tages aber wird Ihnen eine höhere Macht die gleiche Frage stellen.« Er hob anklagend den Zeigefinger. »Und an diesem Tag, mein Sohn, wirst du antworten.«
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Carla und Walter folgten ihm.
Kommissar Thomas Macke lächelte. Manchmal machten Staatsfeinde die Arbeit für ihn. Anstatt im Geheimen zu agieren und sich zu verstecken, zeigten sie sich ihm und boten ihm großzügig unwiderlegbare Beweise ihrer Verbrechen an. Sie waren wie Fische, die keinen Köder brauchten, sondern aus dem Wasser direkt in die Pfanne sprangen.
Pastor Ochs war so jemand.
Macke las den Brief erneut. Er war an Staatssekretär Franz Schlegelberger adressiert, den kommissarischen Justizminister.
Verehrter Herr Minister,
lässt die Regierung behinderte Kinder umbringen? Ich stelle Ihnen ganz offen diese Frage, denn ich brauche eine ebenso offene Antwort.
Was für ein Narr! Sollte die Antwort Nein lauten, war das Verleumdung, eine Straftat. Lautete die Antwort Ja, machte Ochs sich der Enthüllung von Staatsgeheimnissen schuldig. Hatte er nicht selbst darauf kommen können?
Als es mir unmöglich wurde, die Gerüchte zu ignorieren, die in meiner Gemeinde die Runde machten, habe ich das Kinderkrankenhaus am Wannsee besucht und mit dem dortigen Chefarzt gesprochen, Herrn Prof. Dr. Willrich. Seine Antworten waren derart unbefriedigend, dass ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass etwas Schreckliches vor sich geht, bei dem es sich vermutlich um ein Verbrechen handelt – und ohne Zweifel um eine Sünde.
Der Mann hatte Nerven, von »Verbrechen« zu schreiben. War ihm denn nicht der Gedanke gekommen, dass es an sich schon eine Straftat war, Regierungsbehörden eines Verbrechens zu bezichtigen? Glaubte er immer noch, in
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