Winter der Zärtlichkeit
trocknete ihn ab, zog ihm ein neues Nachthemd an und brachte ihn wieder nach oben. Dort legte sie ihn in ihr eigenes Bett, während sie seines frisch bezog.
Den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag pflegte sie ihren kleinen Jungen, legte kalte Tücher auf seine Stirn, hielt seine Hand, erzählte ihm, dass sein Pa in die Stadt gefahren war, um den Arzt zu holen. Vor allem aber sagte sie ihm, dass er sich keine Sorgen machen müsse, weil es ihm bald wieder gut gehen würde.
Ihnen allen würde es gut gehen.
Tobias hatte kurze Momente der Klarheit. „Liam ist auch krank“, sagte er einmal. „Ich will bei Liam sein.“
Ein anderes Mal fragte er: „Wo ist Pa? Geht es Pa gut?“
„Ja, mein Liebling, deinem Pa geht es gut“, versicherte sie ihm sanft.
Es wurde Abend.
Und Doss war noch nicht zurückgekehrt.
Nachdem Hannah mehr Holz aufs Feuer gelegt hatte, zog sie Gabes Mantel über und lief durch den knietiefen Schnee in den Stall, um die Tiere zu füttern, weil niemand sonst da war, der das übernehmen konnte.
Der Wind schnitt in ihre Knochen, die zuerst schmerzten und dann taub wurden.
Wo war Doss?
Die andere Hannah, die jammernde und in den Hintergrund geschobene Hannah, hörte nicht auf, diese Frage auszustoßen.
Wo ... wo ... wo?
Es war vollkommen dunkel, als sie mit dem Füttern fertig
war, und als sie den Stall verließ, hörte sie, wie es in der Ferne donnerte. Zwar waren Gewitter während eines Schneesturms selten, aber Hannah hatte es im Hochland von Arizona schon einmal erlebt und auch in Montana. Eine düstere Vorahnung erfasste sie, und sie hatte rein gar nichts m it Tobias’ Krankheit ; zu tun.
Schnell kehrte sie ins Haus zurück und knipste die Glühbirne in der Küche an, bevor sie auch nur Gabes Mantel ausgezogen hatte - als ob das Licht Doss irgendwie zurück zu ihr und Tobias bringen und ihm den Weg durch den Sturm weisen könnte. Selbst bei Tageslicht und selbst für einen so starken und fähigen Mann wie Doss war es schwierig, den Weg bei einem solchen Wetter zu finden. In der Dunkelheit aber war es geradezu unmöglich.
„Ma?“, rief Tobias. „Ma, bist du unten?“
Seine klare Stimme gab ihr wieder Mut. Doch Doss müsste längst zu Hause sein. Es sei denn, er hatte beschlossen, in der Stadt zu bleiben. Bitte, lieber Gott, lass das den Grund dafür sein.
„Ja“, rief sie zurück, so frö hlich, wie es ihr möglich war.
„Ich bin hier, ich mache dir gerade was zum Abendessen.“
„Komm hoch, Ma. Jetzt. Der Junge ist da.“
Da ließ Hannah den Mantel, den sie ausgezogen hatte, gedankenlos auf den Boden fallen, nahm zwei Stufen auf einmal und stürmte zu Tobias.
Ohne Licht war es stockdunkel in dem Zimmer. Sie konnte den Umriss von Tobias’ Bett ausmachen.
„Er ist hier, Ma“, flüsterte Tobias begeistert, als ob laute Worte seinen Freund vertreiben würden. „Liam ist hier.“
Hannah eilte zum Bett.
„Ich sehe ihn nicht“, wisperte sie.
Genau in diesem Augenblick schien der Himmel sich mit einem ohrenbetäubenden Donner zu teilen. Hannah riss die Hände an die Ohren, der Boden unter ihr erzitterte. Sie wusste natürlich, dass es sich um ein Schneegewitter handelte, doch zugleich fühlte es sich übernatürlich an - und einen kurzen Moment lang sah sie nicht Tobias im Bett liegen, sondern einen anderen kleinen Jungen. Und sie sah die Frau, die neben dem Bett stand, sie anstarrte und mindestens ebenso überrascht wirkte wie sie.
Innerhalb eines Wimpernschlags war alles vorüber.
„Hast du sie gesehen?“ Tobias zerrte verzweifelt an ihrer Hand. „Ma, hast du sie gesehen ?“
„Ja“, keuchte Hannah. Sie fiel neben Tobias’ Bett auf die Knie, unfähig, sich länger auf den Beinen zu halten. Tobias hatte „sie“ gesagt. Also hatte er auch die Frau gesehen. „Gütiger Gott, ja.“
„Sie hat Hosen getragen, Ma“, wunderte sich Tobias.
Am ganzen Körper zitternd, stand Hannah vom Boden auf, hockte sich auf die Bettkante, tastete nach den Streichhölzern und entzündete die Nachttischlampe.
„Erzähl mir, was du noch gesehen hast, Tobias.“ Ihre Hände bebten so heftig, dass der Glaszylinder der Lampe schepperte, als sie sie wieder auf ihren Platz stellte.
„Sie hatte kurzes Haar. Braun, glaube ich. Und sie hat uns gesehen, Ma, so, wie wir sie gesehen haben!“
Hannah nickte benommen.
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Tobias.
„Ich wünschte, ich wüsste es.“
Heute
Sierra stand starr neben Liams Bett, die Arme um sich
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