Winterlicht
taumelte. Finnikin packte den Dieb an seiner groben Jacke, schleuderte ihn gegen die Steinmauer und hielt ihn dort mit der Hand an der Kehle fest. Er durchsuchte seine Taschen und fand vier Silberstücke darin. Als er der Novizin die Geldstücke zeigte, nahm sie sie und schleuderte sie mit derselben Wut zu Boden, die er schon am Vorabend an ihr beobachtet hatte.
„Wo hast du den Ring?“, fragte Finnikin den Dieb und schüttelte ihn.
Der Junge spuckte Finnikin ins Gesicht.
„Das war nicht die Antwort, die ich hören wollte.“ Finnikin zerrte den Dieb von der Wand weg. „Jetzt schlagen wir andere Töne an. Dort drüben am Brunnen stehen die Sklavenhändler von Sorel. Die erkenne ich, wo immer ich sie sehe. Sie riechen nach Kot, weil alle ihre Gefangenen vor Angst die Hosen voll haben. Denn sie wissen, was ihnen blüht.“
Der Dieb stieß einen spöttischen Laut aus. Er spuckte Finnikin wieder an und traf diesmal mitten ins Auge. Finnikin wischte sich langsam über das Gesicht, dann zerrte er den Jungen aus der Gasse, das Mädchen folgte ihm. „Heb die Münzen auf, Evanjalin“, befahl er ihr.
Der Junge wollte fliehen und zerrte an seiner Jacke. „Was hast du vor?“
Jetzt hörte Finnikin zum ersten Mal Angst in der Stimme des Diebs. Seine Worte waren unbeholfen, er benutzte die Sprache von Sarnak.
„Ich werde dich gegen ein Pferd eintauschen.“ Finnikin sah den Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Junge Sklaven wie dich mögen die Sorelaner besonders gern.“
Der Dieb wehrte sich weiter, aber Finnikins Griff war eisern; sein Opfer rang nach Luft. „Ein Händler aus Osteria hat ihn“, winselte der Junge. „Ist Tand, hat er gesagt.“
Die Novizin schlug ihm ins Gesicht, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
Finnikin mochte sich gar nicht ausmalen, was er tun würde, wenn der Dieb Trevanions Schwert gestohlen hätte.
„Er ist es nicht wert. Lass ihn!“
Aber die Novizin rührte sich nicht vom Fleck. Mit funkelnden Augen starrte sie den Jungen an.
Da verfiel der Dieb wieder auf das, was er am besten konnte: Er spuckte ihr ins Gesicht. Die schwarze Filzmütze hatte er tief in die Stirn gezogen, so war seine Augenfarbe schwer zu beschreiben, am ehesten wie Stroh. Finnikin erkannte eine dumpfe Grausamkeit in seinen Zügen, sein Mund war zu einem höhnischen Lächeln erstarrt. Schon jetzt ließen seine breiten Fäuste erkennen, dass er mit zunehmendem Alter immer vierschrötiger werden würde. Aber er war noch jung, etwa fünf Jahre jünger als sie beide. Finnikin fragte sich, wie viele von seiner Art wohl auf den Straßen herumlungerten.
„Werden euch suchen“, knurrte der Dieb. „Werden euch zur Strecke bringen.“
Er sprach wie ein Ausländer, und in diesem Moment wurde Finnikin mit einem Mal klar, woher der Junge kam. Er hatte so einen glasigen Blick, den Finnikin, seit er zwölf Jahre alt gewesen war, an keinem Menschen mehr beobachtet hatte. In jener Zeit war er kurz von Sir Topher getrennt gewesen, weil man ihn in der Hauptstadt Osterias ins Gefängnis geworfen hatte. Zusammen mit ihm waren Kinder aus Lumatere eingekerkert gewesen, deren Eltern entweder während der Fünf Tage des Unsagbaren ums Leben gekommen oder später am Fieber gestorben waren. Manche der Kinder kannten nicht einmal ihren eigenen Namen und konnten sich in keiner Sprache verständigen. Ihre gemeinsame Herkunft hatte in diesem Gefängnis gar nichts bedeutet, sie schien auch diesem Jungen hier völlig gleichgültig. Kein Wunder: Er konnte höchstens drei oder vier Jahre alt gewesen sein, als seine Eltern aus Lumatere hatten fliehen müssen.
Finnikin brauchte nicht zu fragen, wer ihn und Evanjalin suchen und zur Strecke bringen würde. In Sarnak fand sich immer jemand. Vielleicht eine Horde Heranwachsende r – oder verbitterte Familienväter, die Frau und Kinder nicht mehr ernähren konnten. Finnikin war sich sicher, dass der Dieb sie an den Erstbesten verraten würde, egal um welchen Preis. Als ihn die Novizin fragend anblickte, wusste er, was sie zu tun hatten.
Sir Topher betrachtete die drei mit der gewohnten, unerschütterlichen Ruhe. „Jetzt gehören also auch noch ein Pferd und ein Dieb zu unserer kleinen Gesellschaft?“
Finnikin zog das Seil, mit dem die Hände des Jungen gebunden waren, noch einmal fest. „Wenn wir ihn nicht mitgenommen hätten, hätte er uns eine Bande aus Sarnak auf den Hals gehetzt.“
Sir Topher betrachtete den Dieb. „Wie heißt du, Junge?“
Der Junge spuckte ihn
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