Wintermond (German Edition)
noch drei Bücher vor sich. Er schob ein rotes zur Seite von 1976, dann ein grünes von 1979 und schließlich ein blaues von - Ben konnte den Zeitsprung kaum fassen - 2005.
Er musste grinsen und sein Puls begann sich vor lauter Aufregung zu beschleunigen. Wie selbstverständlich zog er das dunkelblaue Album aus der Schublade, legte es vor sich auf die Kommode und schlug es auf. Er rupfte sich ein weiteres Stück von seinem Croissant und steckte es sich so hektisch in den Mund, wie ein Kind sein Popcorn bei einem spannenden Kinofilm.
Die ersten Seiten des Albums waren weder beschriftet noch anderweitig gekennzeichnet. Also blätterte Ben weiter. Es folgten die ersten Fotos. Allerdings waren diese nicht sonderlich abwechslungsreich, zeigten lediglich verschiedene Gebäude und Landschaften. Ben vermutete, dass es Bilder von Häusern waren, die Jo entworfen hatte oder welche, die ihn inspirierten. Er hoffte inständig, dass nicht das ganze Album aus derartigen Fotos bestand und blätterte nervös immer weiter und weiter. Doch außer unterschiedlichen Gebäuden fand er nichts, was ihn interessierte. Er blätterte noch bis zur Hälfte, seufzte dann enttäuscht auf und klappte das Album schließlich wieder zu. Doch gerade, als er es zurück in die Schublade legen wollte, rutschte ein nicht eingeklebtes Fotos aus den hinteren Seiten und landete mit der Rückseite nach oben vor ihm auf dem Boden. Mit Bleistift geschrieben war ein Datum darauf vermerkt. Ben bückte sich, hob das Foto auf und drehte es um.
Er hatte tatsächlich gefunden, wonach er unbewusst gesucht hatte: Ein Bild von Alex.
Es glich mehr einem flüchtigen Schnappschuss, auf dem neben Alex eine blonde Frau, etwa Mitte vierzig, zu sehen war. Sie war hübsch, wirkte jedoch etwas schüchtern und unnatürlich. So, als ob sie in dem Moment der Aufnahme nicht gewusst hatte, wie sie gucken sollte. Sie trug ein hellblaues, knielanges Kleid und hielt einen Arm um Alex’ Hüfte. Alex selbst sah wesentlich jünger aus, obwohl die Aufnahme nicht allzu lange her war. Seine Haare waren kürzer, sein Gesicht wirkte lebendiger und, obwohl er auf dem Bild etwas abwesend erschien, zierte ein verlegenes Lächeln seine Lippen. Er lächelte. So hatte Ben den Blonden noch nie gesehen. Er kannte es zwar, wenn Alex sein schäbiges Grinsen aufsetzte, um ihn zu triezen oder seinen Sarkasmus zu unterstreichen, doch ein derart ehrliches Lächeln hatte er dem Blonden überhaupt nicht zugetraut.
Neugierig wendete Ben das Foto in seiner Hand, um das auf der Rückseite notierte Datum zu lesen. Doch dann vernahm er plötzlich ein Räuspern hinter sich. Erschrocken wandte er sich um, ließ dabei versehentlich den Rest seines Croissants fallen und blickte daraufhin auf in die blaugrauen Augen von Alex.
„Darf ich fragen, was du da machst?“, fragte der Blonde streng.
Seinen rechten Arm hatte er um seinen Oberkörper geschlungen, stützte sich mit dem noch freien Ellenbogen darauf ab und lehnte seinen Kopf gegen die auseinandergespreizten Finger der dazu gehörigen Hand.
„Ich ... ähm ... ich ...“, stotterte Ben und fuhr sich nervös mit seiner Zunge über die Lippen.
Dann wandte er den Blick ab, griff nach dem heruntergefallenen Stück Croissant und richtete sich auf. Dabei warf er noch einen flüchtigen Blick auf die Rückseite des Fotos. 02.01.2005, stand dort in femininer Schrift geschrieben. Er spürte Alex’ festen Blick auf sich und versuchte zu überspielen, dass er sich auf frischer Tat ertappt fühlte und sich gleichzeitig völlig dämlich vorkam, nur in Boxershorts bekleidet vor Alex zu stehen. Also versuchte er von seiner Situation abzulenken, betrachtete das Foto noch einmal und tippte mit dem Zeigefinger auf die blonde Frau, die auf dem Bild neben Alex stand.
„Das ist deine Mutter, oder?“, fragte er vorsichtig.
Alex nahm seine Hand herunter und riss Ben das Foto aus der Hand.
„Das geht dich nichts an“, gab er schnippisch zurück und steckte es daraufhin zurück zwischen die Albumseiten. Dann nahm er das ganze Buch, legte es in die Schublade und schob diese daraufhin wieder zu.
„Was würde mein Vater wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass du in seinen Sachen herumschnüffelst?“, fragte er und zog provokant eine Augenbraue in die Höhe.
Ben tat gelassen. Er zuckte mit der Schulter und konterte: „Was würde dein Vater wohl dazu sagen, wenn er wüsste, in was für Problemen du steckst?“
Alex sah ihn an. Sein Blick spiegelte neben Fassungslosigkeit
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