Wintersturm
Foto posiert hatten. Carl hatte das Foto gemacht.
»Kümmert euch nicht um mich«, hatte er gesagt, »tut so, als ob ich nicht da wäre.« Aber natürlich wußten sie, daß er da war. Die Kinder hatten sich fest an sie gedrückt, und sie hatte auf die beiden hinuntergeblickt, als er sie fotografierte. Ihre Hände lagen auf dem seidenweichen dunklen Haar der Kinder.
»Nein… nein… nein…!« Sie krümmte sich vor Schmerz. Sie schwankte und streckte ihre Hand aus, stieß dabei die Kaffeekanne um, schnappte sie noch auf und spürte kaum, wie ihr dabei kochend heiße Flüssigkeit über die Finger schwappte.
Sie mußte die Zeitung verbrennen. Michael und Missy durften sie nicht zu Gesicht bekommen. Ja, sie würde die Zeitung verbrennen, damit sie niemand zu Gesicht bekam. Sie lief zum Kamin im Wohnzimmer.
Der Kamin… jetzt war er nicht mehr anheimelnd, er strahlte keine Wärme und Geborgenheit mehr aus. Denn es gab keinen Hort der Geborgenheit für sie… für sie würde es niemals einen sicheren Hafen geben. Sie knüllte die Zeitung zusammen und griff zitternd nach der Streichholzschachtel auf dem Kaminsims. Erst ein Rauchfaden, dann eine Flamme, und die Zeitung brannte. Sie stopfte sie zwischen die Holzklötze.
Jeder am Kap las diese Zeitung. Sie würden es erfahren …
alle würden es wissen. Auf dem einen Foto würde man sie bestimmt erkennen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß jemand sie fotografiert hatte, seit sie ihr Haar kurz trug und es gefärbt hatte. Die Zeitung loderte jetzt hell auf. Sie sah zu, wie das Bild mit Peter und Lisa in Flammen aufging, wie es verkohlte und sich zusammenrollte. Tot, alle beide; am besten wäre es gewesen, wenn sie auch tot wäre. Es gab für sie keinen Ort, an dem sie sich verbergen… oder an dem sie Vergessen finden konnte. Ray konnte sich um Michael und Missy kümmern.
Morgen würden die Kinder in Michaels Klasse hinter ihm herblicken, flüstern und mit Fingern auf ihn zeigen.
Die Kinder. Sie mußte die Kinder retten. Nein, sie holen.
Richtig! Sie würden sich erkälten.
Sie stolperte zur Hoftür und riß sie auf. »Peter… Lisa…«, rief sie. Nein, nein! Es mußte Michael und Missy heißen. Michael und Missy waren ihre Kinder.
»Michael. Missy. Kommt herein. Kommt jetzt herein!« Ihr klagender Ruf ging in einen gellenden Schrei über. Wo waren sie? Sie stürzte in den Hinterhof hinaus, ohne auf die Kälte zu achten, die stechend durch ihren dünnen Pullover drang.
Die Schaukel. An der Schaukel waren sie nicht mehr.
Wahrscheinlich steckten sie im Wald. »Michael, Missy.
Michael! Missy! Versteckt euch doch nicht! Kommt jetzt her!«
Die Schaukel bewegte sich noch. Sie schwang im Wind hin und her. Dann sah sie den Fausthandschuh. Missys Fausthandschuh, der sich in den Eisenringen der Schaukel verfangen hatte.
Von weit her hörte sie etwas. Was war das? Die Kinder.
Der See! Sie mußten am See sein. Sie hatte ihnen zwar verboten, dort hinzugehen, aber vielleicht hatten sie es doch getan. Man würde sie finden. Wie die anderen. Im Wasser. Die Gesichter naß und aufgedunsen und leblos.
Sie riß Missys Fausthandschuh an sich, den mit dem Lachgesicht darauf, und taumelte weiter in Richtung auf den See. Immer und immer wieder rief sie ihre Namen. Sie kämpfte sich durch den Wald und hinaus auf den Sandstrand.
Nicht weit vom Ufer schimmerte etwas unter der Oberfläche.
War es etwas Rotes… noch ein Fausthandschuh … Missys Hand? Sie stürzte sich in das eisige Wasser, bis zu den Schultern, und griff tief nach unten. Aber da war nichts. Wie von Sinnen krallte sie ihre Finger zusammen, so daß sie ein Sieb bildeten, aber da war nichts – nur das schreckliche eisige Wasser. Sie blickte hinab, um auf den Grund zu sehen; sie beugte sich nach vorn, fiel hin. Das Wasser drang ihr in Nase und Mund, brannte auf ihrem Hals und ihrem Gesicht.
Schließlich torkelte sie wieder hoch und zurück, ehe ihre nasse Kleidung sie erneut hinabzog. Auf dem eisverkrusteten Sand sank sie nieder. Sie hatte Ohrensausen, und ein Schleier legte sich über ihre Augen. Durch den Nebel sah sie zum Wald hinüber und erblickte ihn – sein Gesicht… Wessen Gesicht?
Der Nebel senkte sich ganz auf ihre Augen herab, die Laute wurden schwächer: das traurige Schnattern einer Seemöwe…
das Plätschern des Wassers… Schweigen.
An dieser Stelle wurde sie von Ray und Dorothy gefunden.
Sie lag im Sand, von Schauern durchschüttelt, das Haar und die Kleider klebten an ihr, die Augen blickten
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