Wintersturm
stieß, und sie taumelte hinter ihm her und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Jetzt waren Fußtritte auf der Treppe zu hören – schwere, schnelle Schritte, die da herauf stürmten.
Verzweifelt horchte sie, wo Carl geblieben war, hörte ihn hinten im Flur; sah, wie sich sein dunkler Schatten gegen das Flurfenster abzeichnete. Er kletterte die Treppe zum Dachboden hinauf. Er wollte auf, den Dachboden. Sie rannte hinter ihm her, holte ihn ein, versuchte sich an seinem Bein festzuklammern. Der Dachboden war höhlenartig, roch nach Moder und hatte dicke Balken unter der niedrigen Decke. Und es war dunkel. So dunkel, daß es kaum möglich war, ihm zu folgen.
»Hilfe!« schrie sie. »Hilfe!« Endlich konnte sie wieder laut schreien. »Hier herauf. Ray. Hier herauf!« Ohne etwas sehen zu können, folgte sie stolpernd dem Geräusch von Carls Schritten. Aber wo war er jetzt? Die Leiter. Er kletterte die dünne, wackelige Leiter hinauf, die vom Dachboden direkt auf das Dach führte. Der Witwensteg. Er wollte auf den Witwensteg hinaus. Sie dachte an den schmalen, gefährlichen Balkon, der zwischen den beiden Türmchen um den Schornstein herumführte.
»Carl, geh da nicht hinauf. Es ist zu gefährlich. Carl, komm zurück, komm zurück!«
Sie konnte seinen rasselnden Atem hören, diesen hohen Ton, der eine Mischung aus Schluchzen und Kichern war. Sie versuchte, seinen Fuß festzuhalten, als sie hinter ihm herkletterte, aber er trat wie wild nach ihr aus, als er ihre Hände spürte. Seine dicke Schuhsohle streifte sie an der Stirn, und sie glitt die Leiter hinab. Ohne das warme, herabströmende Blut zu beachten, das ihr ins Gesicht lief, ohne die Gewalt des Stoßes zu spüren, begann sie erneut hinaufzuklettern, schreiend: »Carl, gib sie her. Carl, bleib stehen.«
Aber er war oben auf der Leiter und stieß die Tür auf, die auf das Dach führte. Dicker Graupel prasselte nieder, als sich die Tür nach oben knarrend öffnete. »Carl, du kannst nicht fliehen«, flehte sie. »Carl, ich will dir helfen. Du bist krank. Ich werde ihnen sagen, daß du krank bist.«
Der Wind erfaßte die Tür und riß sie auf, bis sie gegen die Hauswand donnerte. Missy weinte jetzt – ein lautes, verschrecktes Wehklagen: »Mammmmmmi!«
Carl schob seine Gestalt ganz auf den Balkon hinaus. Nancy kletterte hinter ihm her, stemmte sich gegen den Türrahmen. Es war so eng. Zwischen dem Geländer und dem Schornstein war kaum für eine Person Platz.
Wahnsinnig vor Angst klammerte sie sich an seiner Kleidung fest – versuchte, sich irgendwo an ihm festzuhalten, ihn von dem niedrigen Geländer zurückzuziehen. Wenn er hinfiel oder Missy fallen ließ… »Carl, bleib stehen. Bleib stehen!«
Der Graupel prasselte auf ihn nieder. Er drehte sich um und versuchte wieder, nach ihr zu treten, stolperte aber rückwärts und riß Missy fest an sich. Er torkelte gegen das Geländer und fand das Gleichgewicht wieder. Sein Kichern klang jetzt wie ein fortwährender Schluckauf.
Der Steg war mit einer Eisschicht bedeckt. Er setzte Missy auf das Geländer und hielt sie mit einer Hand fest. »Komm jetzt nicht mehr näher, kleines Mädchen«, sagte er zu Nancy.
»Wenn du das tust, lass’ ich sie fallen. Sag ihnen, sie müssen mich laufenlassen. Sag ihnen, sie dürfen mich nicht anrühren.«
»Carl. Ich will dir helfen. Gib sie mir.«
»Du wirst mir nicht helfen. Du willst, daß sie mir weh tun.«
Er schwang ein Bein über das Geländer.
»Carl. Nein. Tu’s nicht. Carl, du magst doch kein Wasser. Du willst doch deinen Kopf nicht unter Wasser haben. Das weißt du doch. Darum hätte ich auch wissen müssen, daß du keinen Selbstmord verübt hast. Du warst gar nicht fähig, dich ins Wasser zu stürzen. Das weißt du doch, Carl.« Sie sprach mit ruhiger Stimme, wohlüberlegt und besänftigend auf ihn ein. Sie machte einen Schritt nur auf das Geländer zu. Missy streckte ihre Ärmchen aus, flehend.
Dann hörte sie es… ein knisterndes, knackendes Geräusch.
Das Geländer brach! vor ihren Augen gaben die hölzernen Pfosten unter Carls Gewicht nach. Sein Kopf fiel nach hinten zurück; er riß seine Arme nach oben.
In dem gleichen Augenblick, als er Missy losließ, stürzte Nancy nach vorn und riß ihr Kind an sich. Ihre Hände verfingen sich in Missys langem Haar – faßten es, ihre Finger krümmten sich und hielten es fest. Sie schwankte am Rande des Ganges; das Geländer brach auseinander. Sie spürte, wie Carl im Fallen nach ihrem Bein griff. Er
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