Winterträume
»Da ist mein Kleid drin!«
Ohne sich um die mangelnde Logik dieser Bemerkung zu scheren, schwang sie den Koffer mit geradezu übermenschlicher Anstrengung von der Ablage und taumelte, von den arroganten Blicken vieler Mädchen neugierig verfolgt, den Gang hinunter. Als sie, kaum dass der Zug gehalten hatte, auf dem Bahnsteig gelandet war, fühlte sie sich schwach und elend. Sie stand auf dem harten Zement, der das malerische alte Dorf von Manhattan Transfer kennzeichnet, und Tränen strömten ihr über die Wangen, als sie die herzlosen Waggons mit ihrer Fracht glücklicher Jugend gen Princeton rauschen sah.
Nach einer halben Stunde Wartezeit stieg Yanci in einen Zug und kehrte nach New York zurück. In nur dreißig Minuten hatte sie alles Selbstvertrauen, das in einer Woche gewachsen war, wieder verloren. Sie kam in ihr kleines Zimmer zurück und legte sich still aufs Bett.
X
Bis Freitag hatten sich Yancis Lebensgeister von der kalten Schwermut teilweise wieder erholt. Mitten am Vormittag Scotts Stimme am Telefon zu hören war wie ein Tonikum, und sie erzählte ihm mit überzeugender Begeisterung von den herrlichen Erlebnissen in Princeton, wofür sie aus ihren Erinnerungen an einen Ball schöpfte, an dem sie zwei Jahre zuvor teilgenommen hatte. Er würde sie gerne bald sehen, sagte er. Ob sie nicht am Abend mit ihm essen und ins Theater gehen wolle? Yanci überlegte; die Versuchung war groß. Ein Abendessen – am Essen hatte sie in den letzten Tagen gespart, und ein köstliches Diner in einem extravaganten Showtheater, gefolgt von einer musikalischen Komödie, reizte ihre ausgehungerte Phantasie durchaus; doch ihr Instinkt sagte ihr, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen war. Sollte er warten. Sollte er ruhig noch etwas mehr, noch etwas länger träumen.
»Ich bin zu müde, Scott«, antwortete sie, größte Aufrichtigkeit mimend, »ich sag’s dir ganz ehrlich. Seit ich hier bin, war ich jeden Abend aus, ich bin wirklich halb tot. Ich werde mich bei der privaten Party am Wochenende erholen, und dann gehe ich mit dir essen, wann immer du willst.«
Er schwieg einen Moment lang, während sie erwartungsvoll den Hörer ans Ohr hielt.
»Auf einer Party wirst du dich auch gerade erholen«, entgegnete er, »außerdem ist es bis nächste Woche noch so lange hin. Ich kann es wirklich kaum erwarten, dich zu sehen, Yanci.«
»Ich auch nicht, Scott.«
Sie ließ eine Spur von Zärtlichkeit auf seinem Namen nachklingen. Als sie aufgelegt hatte, war sie wieder glücklich. Trotz ihrer Demütigung im Zug hatte ihr Plan Erfolg gehabt. Die Illusion war noch intakt; sie war fast vollendet. Im Verlauf von drei Begegnungen und einem halben Dutzend Telefonaten hatte sie es geschafft, mehr Spannung zwischen ihnen zu erzeugen, als wenn sie sich permanent gesehen und sich den Launen, Bekenntnissen und Täuschungen eines allen Regeln der Kunst gehorchenden Flirts ausgesetzt hätten.
Am Montag bezahlte sie die Hotelrechnung für die erste Woche. Die Höhe der Summe beunruhigte sie nicht – sie war darauf vorbereitet –, aber so viel Geld über den Tisch wandern zu sehen und sich klarzumachen, dass vom Geschenk ihres Vaters nur noch einhundertzwanzig Dollar übrig waren, bescherte ihr doch ein seltsam flaues Gefühl in der Magengrube. Sie beschloss, auf der Stelle zu List und Tücke zu greifen und Scott mittels einer sorgsam eingefädelten Begebenheit eine Art Falle zu stellen, um ihm am Ende der Woche endgültig zu zeigen, dass sie ihn liebte.
Als Köder für ihre Falle machte sie per Telefon einen gewissen Jimmy Long ausfindig, einen gutaussehenden jungen Mann, mit dem sie als kleines Mädchen gespielt hatte und der seit kurzem in New York arbeitete. Jimmy Long wurde auf raffinierte Weise dazu gebracht, sie am Mittwochnachmittag zu einer Theatervorstellung einzuladen. Er sollte sie um zwei Uhr in der Hotellobby abholen.
Am Mittwoch aß sie mit Scott zu Mittag. Seine Blicke folgten jeder ihrer Bewegungen, und als sie dies merkte, wurde sie von einer Woge zärtlicher Gefühle für ihn erfasst. Nachdem sie zuerst nur begehrt hatte, was er repräsentierte, war sie inzwischen, halb unbewusst, auf dem besten Weg, auch ihn selbst zu begehren. Dennoch erlaubte sie sich nicht, die Zügel schleifen zu lassen. Die Zeit war zu kurz, zu viel stand auf dem Spiel. Dass sie anfing, ihn zu lieben, verstärkte ihre Entschlossenheit nur.
»Was hast du heute Nachmittag vor?«, erkundigte er sich.
»Ich gehe ins Theater – mit
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