Winterträume
aufrichtig empfand.
Nachdem der Herbst gekommen und wieder gegangen war, dämmerte ihm, dass er Judy Jones nicht haben konnte. Er musste es seinem Verstand regelrecht einbleuen, doch am Ende schaffte er es, sich selbst davon zu überzeugen. Nachts lag er wach und dachte darüber nach. Er vergegenwärtigte sich, wie viel Ärger und Schmerz sie ihm bereitet hatte, er zählte ihre eklatanten Mängel als Ehefrau auf. Dann sagte er sich, dass er sie trotzdem liebe, und kurz darauf schlief er ein. Damit er sich nicht ihre heisere Stimme am Telefon oder ihre Augen beim gemeinsamen Mittagessen vorstellte, arbeitete er eine Woche lang hart und viel, und abends ging er in sein Büro und plante seine Zukunft.
Am Ende dieser Woche ging er auf ein Clubfest und forderte sie zum Tanzen auf. Vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kannten, bat er sie nicht, sich draußen mit ihm hinzusetzen, und sagte ihr nicht, wie hübsch sie sei. Es schmerzte ihn, dass sie es nicht vermisste – mehr nicht. Er war nicht eifersüchtig, als er sah, dass es an diesem Abend einen neuen Mann gab. Gegen Eifersucht war er längst gefeit.
Er blieb lange. Eine Stunde saß er mit Irene Scheerer zusammen und unterhielt sich mit ihr über Bücher und Musik. Von beidem verstand er wenig. Doch er konnte zunehmend frei über seine Zeit verfügen und hegte die etwas dünkelhafte Vorstellung, dass er – der junge, bereits sagenhaft erfolgreiche Dexter Green – mehr von solchen Dingen verstehen sollte.
Das war im Oktober, als er fünfundzwanzig war. Im Januar verlobten sich Dexter und Irene. Die Verlobung sollte im Juni bekanntgegeben werden, die Hochzeit drei Monate später stattfinden.
Der Winter zog sich endlos in die Länge, und es war schon fast Mai in Minnesota, als die Winde mild wurden und der Schnee endlich in den Black Bear Lake floss. Zum ersten Mal seit über einem Jahr empfand Dexter eine gewisse Gemütsruhe. Judy Jones war in Florida gewesen und danach in Hot Springs, irgendwo hatte sie sich verlobt und irgendwo die Verlobung wieder gelöst. Nachdem Dexter sie endgültig aufgegeben hatte, stimmte es ihn zuerst noch traurig, wenn die Leute sie weiterhin für ein Paar hielten und ihn nach ihr fragten, doch als er bei Tisch immer häufiger neben Irene Scheerer platziert wurde, fragten sie ihn nicht mehr nach Judy, sondern erzählten ihm von ihr. Er war keine Autorität mehr, was ihre Person betraf.
Endlich Mai. Am Abend, wenn die Dunkelheit feucht war wie Regen, lief Dexter durch die Straßen und wunderte sich, dass ihm so schnell mit so wenig eigenem Zutun so viel rauschhaftes Glücksgefühl abhandengekommen war. Der letzte Mai hatte ganz im Zeichen von Judys mitreißendem, unverzeihlichem und doch verziehenem Übermut gestanden – es war einer jener seltenen, kurzen Momente gewesen, in denen er sich eingebildet hatte, sie empfinde etwas für ihn. Er hatte seinen Glückspfennig für einen Scheffel Zufriedenheit ausgegeben. Irene, das wusste er, würde nicht mehr sein als ein Vorhang, der sich hinter ihm ausbreitete, eine Hand zwischen glänzenden Teetassen, eine Stimme, die nach Kindern rief… Feuer und Schönheit waren vergangen, der Zauber der Nächte und das Wunder der wechselnden Tages- und Jahreszeiten… zarte Lippen, die sich nach unten bogen, auf seine Lippen niederfielen und ihn in einen Himmel aus Augen emporhoben… Es saß tief. Er war zu stark und lebendig, als dass es einfach so vergangen wäre.
Eines Tages Mitte Mai, als das Wetter ein paar Tage lang auf jener schmalen Brücke balancierte, die in den Sommer hineinführte, begab er sich zu Irenes Haus. Ihre Verlobung sollte nun in einer Woche bekanntgegeben werden – niemand würde überrascht sein. Und heute Abend wollten sie zusammen auf dem Sofa im University Club sitzen und eine Stunde lang den Tanzenden zuschauen. Er fühlte sich solide, wenn er mit ihr zusammen war – sie war so unverwüstlich beliebt, so ganz und gar ›großartig‹.
Er stieg die Stufen zu ihrem Backsteinhaus hinauf und trat ein. »Irene«, rief er.
Mrs. Scheerer kam aus dem Wohnzimmer und begrüßte ihn. »Dexter«, sagte sie. »Irene ist nach oben gegangen, sie hat rasende Kopfschmerzen. Sie wollte mit Ihnen kommen, aber ich habe sie ins Bett geschickt.«
»Nichts Ernstes, hoff–«
»O nein. Morgen früh wird sie mit Ihnen Golf spielen. Sie kommen doch einen Abend ohne sie aus, nicht wahr, Dexter?«
Ihr Lächeln war freundlich. Sie und Dexter mochten einander. Er unterhielt sich eine Weile
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