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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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ergreifenden Kriegstagen nur zu schnell verflüchtigte, jemals so bezaubernd gewesen war wie in dieser honigfarbenen Beleuchtung unter diesem dunklen Himmel. Von ihren erregten Augen bis zu ihren winzigen Schuhabsätzen, in die Schichten echten Silbers und Goldes eingelegt waren, wirkte sie wie eines der staunenswerten Schiffe, die sich vollständig ausgearbeitet in einer Flasche befinden. Genauso fein und sorgfältig war sie ausgeführt, so als hätte ein Spezialist für Zierliches seine lebenslange Arbeitszeit auf sie verwendet. John Chestnut hätte sie am liebsten in die Hände genommen, hin und her gewendet, eine Schuhspitze oder ein Ohrläppchen untersucht oder die feenhafte Beschaffenheit ihrer Wimpern aus der Nähe betrachtet.
    »Wer ist das?« Sie deutete unversehens auf einen gutaussehenden Lateinamerikaner an einem Tisch auf der anderen Seite des Gangs.
    »Das ist Roderigo Minerlino, Star aus Film und Gesichtscremereklame. Vielleicht tanzt er später.«
    Rags wurde sich mit einem Mal der Klänge von Geigen und Schlagzeug bewusst, doch die Musik erklang wie aus weiter Ferne, als schwebte sie mit der Fremdartigkeit eines Traumgebildes durch die frische Nacht und auf den Boden des Tanzsaals.
    »Das Orchester spielt auf einem anderen Dach«, erklärte John. »Eine Weltneuheit – sieh nur, das Programm beginnt.«
    Ein gertenschlankes Negermädchen trat plötzlich aus einem verborgenen Zugang in einen Kreis grellen, barbarischen Lichts, stachelte die Musik zu ungestümen Mollklängen an und begann ein rhythmisches, klagendes Lied zu singen. Abrupt brach ihre Stimme ab, und sie ging zu langsamen, immergleichen Tanzschritten über, ohne Entwicklung und ohne Hoffnung, wie das Scheitern eines wilden, aussichtslosen Traumes. Sie habe Papa Jack verloren, rief sie immer wieder mit einer hysterischen Monotonie, die so verzweifelt wie untröstlich anmutete. Die lauten Blasinstrumente wollten sie eines nach dem anderen dem stetigen Rhythmus des Wahnsinns entreißen, doch sie hörte nur auf das Murmeln des Schlagzeugs, das sie zwischen Tausende vergessener Jahre an einen verlorenen Ort in der Zeit versetzt hatte. Nachdem die Pikkoloflöte sich vergeblich bemüht hatte, verwandelte sie sich wieder in einen dünnen braunen Strich und stieß einen gellenden und durchdringenden Klagelaut aus, bevor plötzliche Dunkelheit sie unsichtbar machte.
    »Wenn du in New York lebtest, müsste ich dir nicht sagen, wer sie ist«, sagte John, als das honiggelbe Licht aufleuchtete. »Als Nächstes tritt Sheik B. Smith auf, ein Komiker von der albernen und geschwätzigen Sorte –«
    Er verstummte. Als die Beleuchtung vor der nächsten Nummer erlosch, stieß Rags einen langen Seufzer aus und bewegte sich vor. Ihre Augen blickten starr wie die eines Vorstehhunds, und John sah, dass ihr Blick sich auf eine Gruppe Leute heftete, die durch einen Seiteneingang hereingekommen waren und sich im Halbdunkel an einen Tisch setzten.
    Der Tisch war von Palmen verdeckt, und zuerst konnte Rags nur undeutlich drei Schatten erkennen. Dann machte sie eine vierte Person aus, die im Hintergrund Platz genommen hatte – ein blasses ovales Gesicht, gekrönt von dem Glitzern dunkelblonder Haare.
    »Hoppla!«, entfuhr es John. »Da haben wir ja Seine Majestät.«
    Rags’ Atem schien flüsternd in ihrer Kehle zu ersterben. Undeutlich nahm sie wahr, dass der Komiker inzwischen in gleißend weißem Licht auf dem Tanzboden stand, dass er seit einiger Zeit sprach und dass plätscherndes Gelächter die Luft erfüllte. Doch ihr Blick verharrte reglos, gebannt. Sie sah, wie einer der Begleiter den Kopf neigte und einem anderen etwas zuflüsterte, und nach dem leisen Flackern eines Streichholzes glühte der feurige Knopf eines Zigarettenendes im Hintergrund. Wie lange sie reglos dasaß – sie hätte es nicht sagen können. Dann war es, als geschähe etwas mit ihren Augen, etwas Weißes bedrängte sie auf unerträgliche Weise, und als sie sich abrupt umdrehte, merkte sie, dass sie mitten in dem Lichtkreis eines kleinen Scheinwerfers saß. Allmählich hörte sie Wörter, die von irgendwo zu ihr gesagt wurden, und ein kurzes Auflachen, das rund ums Dach lief, aber das Licht blendete sie, und instinktiv erhob sie sich halb von ihrem Stuhl.
    »Bleib sitzen!«, flüsterte John ihr über den Tisch zu. »Er sucht sich jeden Abend einen Gast dafür aus.«
    Dann begriff sie, dass er den Komiker Sheik B. Smith meinte. Dieser sprach zu ihr, redete auf sie ein – es ging um

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