Winterträume
»Morgen fahre ich nach Paris zurück.«
John Chestnut brachte vor Verblüffung kein Wort heraus.
»Ich habe dir ja geschrieben, dass ich höchstens eine Woche lang bleiben würde«, fügte sie hinzu.
»Aber Rags –«
»Warum sollte ich auch? In New York gibt es keinen einzigen amüsanten Mann.«
»Aber Rags, gibst du mir wirklich keine Chance? Kannst du nicht wenigstens für zehn Tage bleiben und mich ein bisschen besser kennenlernen?«
»Dich kennenlernen!« Ihrem Ton ließ sich entnehmen, dass er bereits ein allzu offenes Buch für sie war. »Ich suche einen Mann, der zu einer ritterlichen Geste imstande ist.«
»Willst du damit sagen, dass ich mich nur noch pantomimisch ausdrücken soll?«
Rags seufzte voller Überdruss.
»Ich will damit sagen, dass du keine Spur Phantasie hast«, erklärte sie geduldig. »Wie alle Amerikaner. Paris ist die einzige Großstadt, in der eine kultivierte Frau leben kann.«
»Du hast wohl gar nichts mehr für mich übrig?«
»Wenn das so wäre, dann hätte ich nicht den Atlantik überquert, um dich wiederzusehen. Aber als ich die Amerikaner auf dem Schiff sah, ist mir klargeworden, dass ich keinen Amerikaner heiraten kann. John, ich würde dich verabscheuen, und mein einziges Vergnügen würde darin bestehen, dir das Herz zu brechen.«
Geschmeidig schlängelte sie sich wieder zwischen die Kissen, bis fast nichts mehr von ihr zu sehen war.
»Ich habe mein Monokel verloren«, erklärte sie.
Nach erfolglosem Suchen in den seidenen Tiefen stellte sie fest, dass das trügerische Glas ihr falsch herum um den Hals hing.
»Ich wäre so gern verliebt«, sprach sie weiter, während sie das Monokel wieder in ihr Kinderauge steckte. »Letztes Frühjahr wäre ich in Sorrent um ein Haar mit einem indischen Radschah durchgebrannt, aber er war eine Spur zu dunkelhäutig, und eine seiner anderen Ehefrauen konnte ich partout nicht ausstehen.«
»Hör auf mit diesem Blödsinn!«, rief John und schlug sich die Hände vor das Gesicht.
»Aber ich habe ihn doch nicht geheiratet«, verteidigte sie sich. »Obwohl er in gewisser Hinsicht eine gute Partie war. Er war der drittreichste Untertan des britischen Weltreichs. Apropos – bist du reich?«
»Nicht so reich wie du.«
»Siehst du? Was kannst du mir denn bieten?«
»Liebe.«
»Liebe!« Wieder verschwand sie in den Kissen. »Pass mal auf, John. Für mich ist das Leben eine Abfolge glitzernder Bazare, und vor jedem steht ein Händler, der sich die Hände reibt und sagt: ›Beehren Sie meinen Laden mit Ihrem Besuch. Bestes Bazar von Welt.‹ Und ich trete ein, willens zu kaufen, meinen Beutel gefüllt mit Schönheit und Geld und Liebe. ›Was haben Sie denn zu bieten?‹, frage ich ihn, und er reibt sich die Hände und sagt: ›Nun, Mademoiselle, heute hätten wir ausnehmend wuuun-der-schöne Liebe im Angebot.‹ Manchmal hat er sie nicht einmal auf Lager, sondern lässt sie holen, wenn er merkt, wie viel Geld ich ausgeben kann. Ach ja, Liebe bekomme ich immer, bevor ich gehe – umsonst. Das ist meine Revanche.«
John Chestnut stand verzweifelt auf und tat einen Schritt zum Fenster.
»Spring nicht raus«, sagte Rags schnell.
»Schon gut.« Er warf seine Zigarette zur Madison Avenue hinunter.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie in sanfterem Ton. »So langweilig und prosaisch du auch bist, bedeutest du mir mehr, als ich sagen kann. Aber das Leben hier ist so eintönig. Nie passiert etwas.«
»Jede Menge Dinge passieren«, widersprach er. »Erst heute hatten wir einen intellektuellen Mord in Hoboken und einen stellvertretenden Selbstmord in Maine. Dem Kongress liegt eine Gesetzesvorlage zur Sterilisierung von Agnostikern vor –«
»Humor interessiert mich keine Spur«, wandte sie ein, »aber für Romantik habe ich ein hoffnungslos altmodisches Faible. Stell dir vor, John, letzten Monat saß ich bei einem Diner mit zwei Männern am Tisch, die mit einer Münze um das Königreich von Schwartzberg-Rheinmünster losten. In Paris habe ich einen gewissen Blutchdak kennengelernt, den echten Urheber des Ersten Weltkriegs, der für übernächstes Jahr einen neuen Krieg in Vorbereitung hat.«
»Na gut, dann geh heute Abend mit mir aus, um dich zur Abwechslung auszuruhen«, sagte er störrisch.
»Und wohin?«, fragte Rags verächtlich. »Denkst du etwa, mit einem Nachtclub und einer Flasche zuckrigem Schaumwein bringst du mich aus dem Häuschen? Meine eigenen billigen Träume sind mir lieber.«
»Ich gehe mit dir in den
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