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Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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kurzen Zeit war er aus der Armut zu einer Position mit unbegrenzten Möglichkeiten aufgestiegen.
    Er betrachtete sich im Spiegel der Frisierkommode. Seine Haut war tiefbraun, beinahe schwarz, doch es war ein romantisches Schwarz, das ihm in der letzten Woche, als er Zeit gehabt hatte, sich damit zu beschäftigen, nicht wenig Vergnügen bereitet hatte. Auch seinen robusten Körperbau betrachtete er mit einer gewissen Faszination. Irgendwo hatte er ein Stück Augenbraue eingebüßt, und um das Knie trug er noch immer eine Bandage, doch er war zu jung, um nicht gemerkt zu haben, dass viele Frauen auf dem Dampfer ihm ungewohnt anerkennende Blicke zugeworfen hatten.
    Seine Kleider allerdings waren scheußlich. Ein griechischer Schneider in Lima hatte sie für ihn angefertigt – in zwei Tagen. George war ebenfalls jung genug, um Jonquil diese modische Unzulänglichkeit in seiner ansonsten lakonischen Nachricht erklärt zu haben. Das einzige andere Detail, das diese Nachricht enthalten hatte, war die Bitte gewesen, man möge davon absehen, ihn am Bahnhof abzuholen.
    George O’Kelly aus Cuzco, Peru, wartete anderthalb Stunden im Hotel – um genau zu sein: so lange, bis die Sonne in der Mitte des Himmels angekommen war. Frisch rasiert und mit Talkum gepudert, um seinen Teint einem eher nordamerikanischen Ton anzunähern – denn in letzter Minute hatte doch noch die Eitelkeit über die Romantik gesiegt –, bestellte er ein Taxi und machte sich auf den Weg zu jenem Haus, das er so gut kannte.
    Er atmete schwer – das merkte er selbst, aber er sagte sich, es sei gespannte Erwartung und keine Gefühlsregung. Er war hier; sie war nicht verheiratet; das genügte. Er wusste nicht einmal genau, was er ihr zu sagen hatte. Und doch war dies der Moment in seinem Leben, auf den er am wenigsten hätte verzichten mögen. Ohne ein Mädchen an seiner Seite gab es zwar keinen Triumph, aber wenn er ihr seine Beute auch nicht vor die Füße legte, so konnte er sie ihr doch zumindest für einen flüchtigen Moment vor Augen halten.
    Das Haus tauchte plötzlich drohend neben ihm auf, und sein erster Gedanke war, dass es eine seltsam unwirkliche Anmutung hatte. Nichts war verändert – nur dass alles verändert war. Das Haus war kleiner und wirkte gewöhnlicher als früher – keine Zauberwolke schwebte über seinem Dach und drang aus den Fenstern des oberen Stockwerks. Er klingelte an der Haustür, und ein ihm unbekanntes farbiges Mädchen erschien. Miss Jonquil werde gleich herunterkommen. Er befeuchtete sich nervös die Lippen und ging in den Salon – und das Gefühl der Unwirklichkeit wuchs. Eigentlich, sah er jetzt, war dies nur ein Zimmer und nicht das verwunschene Gemach, in dem er jene schmerzlichen Stunden zugebracht hatte. Er setzte sich auf einen Stuhl, erstaunt darüber, dass es nur ein Stuhl war, und begriff, wie sehr seine Einbildung all diese einfachen, normalen Dinge verzerrt und ausgeschmückt hatte.
    Dann öffnete sich die Tür, und Jonquil trat ins Zimmer – und plötzlich war es, als verschwimme alles vor seinen Augen. Er hatte vergessen, wie schön sie war, und er fühlte, wie sein Gesicht blass wurde und die Stimme in seiner Kehle zu einem kläglichen Seufzer verkümmerte.
    Sie war in Hellgrün gekleidet, und eine goldene Schleife band ihr dunkles, glattes Haar zurück wie eine Krone. Der Blick ihrer vertrauten Samtaugen traf auf den seinen, und angesichts ihrer Schönheit, die einem Mann so große Schmerzen bereiten konnte, fuhr ihm der Schreck in die Glieder.
    Er sagte »Hallo«, und sie traten beide ein paar Schritte vor und schüttelten sich die Hand. Dann nahmen sie ziemlich weit voneinander entfernt Platz und schauten sich quer durch den Raum an.
    »Du bist zurückgekommen«, sagte sie, und er antwortete genauso einfallslos: »Ich bin auf der Durchreise – da wollte ich kurz vorbeischauen und dich sehen.«
    Er versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu beherrschen, indem er überall hinschaute, nur nicht in ihr Gesicht. Es war an ihm, etwas zu sagen, doch wenn er nicht sofort zu prahlen anfangen wollte, wusste er nicht, was er ihr hätte erzählen können. In ihrem früheren Verhältnis zueinander hatte es keine Oberflächlichkeiten gegeben – es schien undenkbar, in dieser Situation über das Wetter zu reden.
    »Das ist ja lächerlich!«, platzte er, plötzlich peinlich berührt, heraus. »Ich weiß nicht genau, was ich tun soll. Ist es dir unangenehm, dass ich hier bin?«
    »Nein.« Die Antwort war zugleich

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