Winterträume
Bernice«, sagte Warren rasch.
Mit gerecktem Kinn schritt sie über den Gehweg, drückte die Schwingtür auf und hielt, ohne die aufgekratzte, lärmende Meute, die jetzt die Wartebank in Beschlag nahm, eines Blickes zu würdigen, auf den ersten Barbier zu.
»Ich möchte, dass Sie mir einen Bubikopf schneiden.«
Der Mund des Barbiers öffnete sich einen Spaltbreit. Seine Zigarette fiel zu Boden.
»Wie?«
»Meine Haare – schneiden Sie sie ab!«
Ohne sich auf weiteres Vorgeplänkel einzulassen, nahm Bernice hoch oben Platz. Ein Mann auf dem Stuhl neben ihr wandte den Kopf zur Seite und warf ihr einen Blick zu, halb Rasierschaum, halb Erstaunen. Einer der Barbiere erschrak und ruinierte den monatlichen Haarschnitt des kleinen Willy Schuneman. Mr. O’Reilly, der im letzten Stuhl saß, grunzte und fluchte sehr musikalisch in altem Gälisch, als das Rasiermesser ihn in die Wange biss. Zwei Stiefelputzer bekamen große Augen und stürzten auf ihre Füße zu. Nein. Bernice wollte ihre Schuhe nicht poliert haben.
Draußen blieb einer stehen und starrte herein; ein Paar gesellte sich zu ihm; ein halbes Dutzend kleiner Jungensnasen blitzten auf, platt gegen die Fensterscheibe gedrückt; und durch die Fliegengittertür wehte die Sommerbrise den einen oder anderen Gesprächsfetzen herein.
»Guck mal, ’n Junge mit so langen Haaren!«
»Blödsinn! Das ist ’ne bärtige Frau, die er grad fertigrasiert hat.«
Doch Bernice sah nichts und hörte nichts. Ihr einziger noch lebendiger Sinn sagte ihr, dass der Mann in der weißen Jacke ihr erst einen Schildpattkamm und dann einen zweiten aus dem Haar genommen hatte; dass seine Finger sich linkisch an den ungewohnten Haarnadeln zu schaffen machten; dass dieses Haar, ihr wunderschönes Haar, gleich verschwunden sein würde – nie wieder würde sie seine sinnliche Schwerkraft spüren, wenn es ihr in seiner dunkelbraunen Pracht den Rücken herabhing. Eine Sekunde lang war sie kurz davor, klein beizugeben, und dann schwamm ein Bild mechanisch in ihr Gesichtsfeld – Marjories Mund, der sich zu einem leisen, ironischen Lächeln verzog, als wollte sie sagen: »Gib auf und steig da runter! Du wolltest mich übers Ohr hauen, und ich habe dich gezwungen, Farbe zu bekennen. Du siehst, du hast keine Chance.«
Ein letzter Rest Energie regte sich in Bernice, sie ballte unter dem weißen Umhang die Fäuste, und ihre Augen verengten sich auf eine so eigentümliche Weise, dass Marjorie noch lange Zeit danach davon erzählte.
Zwanzig Minuten später schwang der Barbier sie herum, damit sie sich im Spiegel betrachten konnte, und sie zuckte zusammen, als sie das ganze Ausmaß des Schadens erfasste, der hier angerichtet worden war. Sie hatte kein lockiges Haar, und jetzt hing es in strähnigen, leblosen Blöcken zu beiden Seiten ihres erbleichten Gesichts herab. Es war hässlich wie die Sünde – sie hatte es vorher gewusst. Der besondere Charme ihres Gesichts war eine madonnenhafte Schlichtheit gewesen. Davon war nichts mehr übrig, und sie sah – nun ja, entsetzlich mittelmäßig aus, nicht exzentrisch, sondern bloß lächerlich, wie eine Intelligenzbestie aus Greenwich Village, die ihre Brille zu Hause vergessen hatte.
Als sie vom Stuhl hinunterstieg, versuchte sie zu lächeln – was kläglich scheiterte. Sie sah zwei der Mädchen Blicke wechseln, nahm wahr, dass Marjories Mund sich in verhaltenem Spott verzog – und dass Warrens Augen auf einmal sehr kalt waren.
»Sehen Sie« – ihre Worte fielen mitten in ein betretenes Schweigen hinein –, »ich hab’s getan.«
»Ja – das haben Sie«, gab Warren zu.
»Gefällt es Ihnen?«
Zwei oder drei Stimmen brachten ein halbherziges »Klar« hervor, dann herrschte erneut betretenes Schweigen. Schließlich wandte Marjorie sich rasch und mit schlangenhafter Intensität Warren zu.
»Könntest du mich vielleicht bei der Reinigung vorbeifahren?«, fragte sie. »Ich muss vor dem Abendessen unbedingt noch ein Kleid dort hinbringen. Roberta fährt direkt nach Hause, sie kann die anderen mitnehmen.«
Warren blickte geistesabwesend auf irgendeinen unbestimmten Punkt draußen vor dem Fenster. Dann ruhte sein Blick einen Moment lang kalt auf Bernice, ehe er zu Marjorie wanderte.
»Aber gern«, sagte er langsam.
VI
Was für eine abscheuliche Falle man ihr gestellt hatte, wurde Bernice vollends klar, als sie kurz vor dem Abendessen dem fassungslosen Blick ihrer Tante begegnete.
»Aber Bernice!«
»Ich hab’s mir abschneiden lassen,
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