Winzertochter (Contoli-Heinzgen-Krimi)
an ihr eigenes kleines Appartement. Auch da lag das meiste auf dem Boden.
„ Schauen Sie.“ Leonie saß in der Hocke und hatte eine dieser großen Zeichenmappen aufgeklappt, die eine Menge bemalter Blätter beherbergte. Mit leicht geröteten Wangen reichte sie Anke daraus ein Blatt nach dem anderen herauf.
„ Wunderschön, fantastisch“, murmelte Anke. Die meisten Kreidezeichnungen zeigten die Weinberge, das Kloster Kalvarienberg, das Feuersteinhaus und die Terrassen aus verschiedenen Perspektiven als auch einige Versuche, einfach nur mit den Farben zu spielen.
„ Sie lieben die Weinberge sehr“, stellte Anke laut fest.
„ Lieben?“ antwortete Leonie. „Ich bin in ihnen aufgewachsen. Sie sind ein Teil von mir, aber lieben?“
Anke schaute sie skeptisch an. „Aber Sie malen sie, und zwar mit viel Herzblut, wie ich das sehe.“
Leonie erhob sich aus ihrer hockenden Stellung und schaute aus dem Fenster. „Es sind Motive, die direkt vor meiner Nase liegen.“
Leonie wich ihr aus, das spürte Anke deutlich. „Warum hängen Sie nicht einige davon im Restaurant auf?“
„Oh.“
Anke sah Leonie an. Mehr hatte sie zu dem Vorschlag nicht zu sagen, als nur oh?
„Sie haben wirklich Talent.“
Leonie beugte sich wieder hinunter zu ihrer Zeichenmappe. Anke sah aus den Augenwinkeln, wie die junge Frau rasch ein Blatt ganz nach unten unter die anderen schob.
„Darf ich das nicht sehen“, witzelte Anke.
Leonie zögerte einen Moment.
„Doch, warum nicht?“
Sie holte das Blatt wieder hervor. Dabei rutschte ein weiteres bis zur Hälfte mit heraus. Hastig schob Leonie es zurück. Aber Anke hatte es bemerkt. Wenn sie sich nicht täuschte, hatte Leonie auf dem schnell wieder verstauten Papier den Treppensturz der Irmi Lange festgehalten. Anke nahm das gewünschte Gemälde entgegen. Um das Gesicht darauf besser aufnehmen zu können, betrachtete sie die Zeichnung mit ausgestreckten Armen. Es zeigte eine Frau mit gesenktem Haupt und hochgesteckten kastanienbraunen Locken, denen Leonie hier und da einen dezenten Rotstich eingemischt hatte. Sie blickte intensiv auf eine Reihe vor ihr ausgelegter Karten. Anke glaubte, es seien Kipper-Karten. Sie hatte solche schon einmal gesehen.
„Das ist meine Mutter“, erklärte Leonie und stellt sich neben Anke. „Ich habe sie aus der Erinnerung heraus gemalt. Vor ungefähr zwei Jahren. Sie ist schon lange tot.“
Ihre Stimme klang traurig. Vom Tod der Mutter wusste Anke ja, sagte aber nichts, streckte nur ihren Arm aus und zog Leonie leicht an sich.
„Beeindruckend“, flüsterte Anke. Sie war bewegt, wenn sie auch nur Bruchstücke aus dem Leben von Leonies Mutter kannte. Anke erinnerte sich an Lisabeth Küsters, die ihr erzählte hatte, dass Leonies Mutter nicht glücklich gewesen war und sich hinter ihren Karten verkrochen hatte. So verkrochen, dass es in Leonies Bewusstsein haften geblieben war. Anke reichte ihre das Blatt zurück. Sie hatte das Gefühl, Leonie ein Stück näher gekommen zu sein. Als sie sie eben spontan an sich gedrückt hatte, war es ihr vorgekommen, als hätte Leonie einen Moment länger als nötig ausgeharrt, keine Abwehrreaktion gezeigt. Jetzt war vielleicht der richtige Moment, sie über die Malerei zu erreichen.
„ Sie brauchen Ihre Bilder nicht zu verstecken, Frau Rosskamp. Sie malen wundervoll. Ich bewundere das, ich kann so was nämlich nicht“, lachte Anke, „obwohl ich sonst viel kann. Na, außer Kochen, darin bin ich auch gottserbärmlich.“
Leonie lachte sie offen an und zeigte schöne gerade weiße Zähne. Es war das erste Mal, dass Anke sie richtig erfreut lachen hörte. Unvermittelt ging Leonie in lauschende Stellung. Anke hörte erst jetzt die sich nähernden Schritte vor der Tür.
„Leonie!“, rief eine dunkle männliche Stimme. Anke erwartete, dass jeden Moment die Tür aufging. Leonie bekam für Sekunden einen panischen Blick, dann starrte sie mit bewegungsloser Miene auf die Tür. Anke glaubte zu hören, wie sich leise der Schlüssel im Türschloss drehte. Oder bildete sie sich das nur, weil sie sensibilisiert war? Sekunden später wurde die Klinke nach unten gedrückt, aber die Tür öffnete sich nicht.
„ Vater, ich komme gleich“, rief Leonie Richtung Tür.
„ Wieso bist du nicht im Weinverkauf? Ich brauche Broll jetzt, also mach voran!“ klang es barsch zurück. Die Schritte entfernten sich wieder. Anke hielt Leonies forschendem Blick stand. Ich werde dir nicht signalisieren, dachte Anke, dass ich etwas
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