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Wir beide nahmen die Muschel

Wir beide nahmen die Muschel

Titel: Wir beide nahmen die Muschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Hendrix
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Jahre 791-842
gebaut. Mit dem Bau der heutigen Kathedrale wurde im Jahre 1077 begonnen. Wir
betreten sie voller Erwartung. Leider war der vordere Innenbereich eine
Baustelle. So konnten wir auch nicht, wie es Sitte ist, unsere Hände um die
Säule der Herrlichkeit »Pórtico de la Gloria« legen. Diese beeindruckende
Mittelsäule weist über zweihundert Figuren der Apokalypse auf. Sie wurde im
Jahre 1188 von Maestro Mateo geschnitzt. Auf dieser Säule steht der heilige
Jakobus und am unteren Ende der Säule hat der Maestro Mateo sich selbst
verewigt. Früher hat jeder Pilger zuerst mit seiner Hand die Säule umfasst, als
Begrüßung des über ihn stehenden Apostels, danach am Fuße der Säule den Kopf
des Maestro mit seinem Kopf drei Mal berührt, in der Hoffnung, ein Teil seiner
Weisheit zu erlangen. Es werden zu viele Pilger in den Jahrhunderten dies getan
haben. Die Säule war schon sehr abgegriffen und der Maestro schaut traurig,
weil keiner ihn mehr berührt. Die Säule ist rundum mit schweren Eisenstangen
abgesperrt. Ein spanischer Pilger schaute sich um, im Moment war kein
Kirchenaufseher zu sehen und so kroch er auf allen vieren unter den Stangen
durch, berührte sehr ergriffen die Säule mit seinen Händen und den Kopf des
berühmten Baumeisters mit seiner Stirn. Ich habe genau so viel Glück, denn er
ist jetzt mit meiner Kamera festgehalten. Wir gingen langsam durch das lange
Mittelschiff und setzen uns vorne auf eine Bank und schämen uns unserer Tränen
nicht. Wir haben das Ziel unserer Sehnsucht erreicht, die Grabeskirche des Hl.
Apostels Jakobus. Was wir mit unserer Seele empfinden, kann man nicht in Worten
ausdrücken. Alle Anspannung hatte sich von uns gelöst, wir waren allein,
inmitten vieler Pilger. Wie viele hatten im Vorfeld über uns geschimpft? Da
gehen zwei, welche nicht verheiratet sind zehn Wochen zusammen, das gehört sich
einfach nicht. Wir haben alle ihre Mäuler zerreißen lassen und sind trotzdem,
mit Erlaubnis unserer Ehepartner, diesen Weg zusammen gegangen. Es war nicht
immer leicht, wir waren nicht immer einer Meinung. Manchmal hatte es auch
gekracht. Aber wir hatten ein gemeinsames Ziel und diesen Gedanken haben wir
bis zu letzten Tag durchgeführt. Wir können uns und unseren Ehepartnern ohne
Schuldgefühle in die Augen sehen und darauf sind wir beide besonders stolz. Nun
hatten wir Zeit für unsere Gebete. Wie viele Menschen hatten uns gebeten, ihre
Sorgen und Nöten mit auf unserem Weg zu nehmen. Einige hatten sehr kranke
Familienangehörige. Ich hoffe, dass unser Gebet für sie Erhörung findet. Leider
waren wir unter der großen Masse Menschen fast die einzigen Beter. Viele sehen
die Kirche als ein Museum an und verhalten sich auch so. Es wird geschwatzt wie
auf einem Marktplatz. Es ist ein einziges Blitzlichtgewitter, trotzdem dies
nicht erlaubt war, es ist ein Kommen und Gehen. Wie hatte unser Herrgott einmal
im Tempel gesagt, als er den Händlern die Tische umwarf und sie mit einer
Peitsche aus dem Tempel trieb: »Ihr habt den Tempel Gottes zu einer Räuberhöhle
gemacht.« Hier hätte er noch einmal einen Grund gehabt, einzuschreiten. Die
Kirchenaufsicht machte sich die größten Mühen, aber es waren einfach zu viele
Menschen aus aller Welt, welche die Kathedrale besuchen. Wir schauen auf den
neuen vergoldeten Hauptaltar. Ein riesengroßer Baldachin wird über die
überlebensgroße Büste des Apostels Jakobus von Engeln getragen. Jedem
Santiagobesucher bietet sich in der Kathedrale die Möglichkeit, die
beeindruckende Statue des Hl. Jakobus hinter dem Hochaltar nicht nur zu
begrüßen, sondern auch zu umarmen. Ich hatte mir einen Moment ausgesucht als
wenige Pilger dies wahrnahmen. Ich habe ihn voller Ergriffenheit und mit nassen
Augen umarmt. Ich denke, er hatte bestimmt voller Wohlwollen uns von seinem
Himmelsfenster aus, auf unserem langen Weg begleitet. Mit seiner Hilfe sind wir
800 km bis zu seinem Grab ohne gesundheitliche Probleme gepilgert, noch nicht
mal eine Blase hatten wir uns gelaufen, dafür können wir nicht genug danken. An
der Seite, wo ich den Hochaltar verlasse, geht es zwei Etagen tiefer in die
Krypta zum silbernen Reliquienschrein. Leider wird dieser Ort täglich von
tausenden Gläubigen aufgesucht. Ich war nur kurz unten, ich werde einen besseren
Moment abwarten, dazu habe ich ja noch einen Tag Zeit. Ich fand meine
Pilgerpartnerin tief versunken im Gebet in der Bank von vorhin, wer möchte da
schon stören? Ganz leise setzte ich mich neben sie, so

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