Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
kommen, aber er konnte trotzdem aufhören, so zu tun, als sei er jemand anders.
»Gut, ich will wieder normal aussehen«, befahl er.
Das Spiegelbild änderte sich nicht. Ihm blickte immer noch das Gesicht von Siegfried entgegen, das er schon vor so langer Zeit mit dem eigenen vertauscht hatte.
»Hallo! Ich will wieder wie Malcolm Fisher aussehen!« rief er gereizt. »Na los, nun mach schon!«
Keine Veränderung. Wütend tastete Malcolm nach der kleinen Spange unter dem Kinn, die er ebenfalls ewige Zeiten nicht mehr beachtet hatte. Sie ließ sich leicht öffnen, und Malcolm zog sich die Kappe aus Drahtgeflecht vom Kopf und warf sie aufs Sofa.
Keine Veränderung. Das Gesicht, das ihm blöde aus dem Spiegel entgegenstarrte, war das von Fafners Bezwinger, von Siegfried dem Drachentöter. Malcolm stöhnte auf und sank auf die Knie. Wieder einmal hatte seine Mutter recht behalten. Er steckte tief in der Patsche. Jetzt würde er bis zum Lebensende mit dem ihm buchstäblich ins Gesicht geschriebenen Beweis seines Betrugs herumlaufen müssen.
Und was noch viel schlimmer war: Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie er selbst ausgesehen hatte. Hätte er wenigstens das gewußt, wäre er vielleicht in der Lage gewesen, sich irgendeine raffinierte Maske anzufertigen. Aber sein eigenes Gesicht war ihm vollkommen entfallen. Er nahm den Tarnhelm und starrte ihn ohne jede Hoffnung an. Dabei hatte er ein Gefühl wie als kleiner Junge, wenn er eine Fensterscheibe zerbrochen oder den Lack vom Rahmen abgekratzt hatte. Er hatte etwas Furchtbares angestellt, das er nicht wieder in Ordnung bringen konnte, und das alles war allein seine Schuld.
Der nächste Morgen war kalt und klar. Malcolm wachte schon früh mit Kopfschmerzen auf, die er ganz prosaisch dem Schnaps zuschrieb. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, schlenderte er zum Forellenbach hinunter. Er blieb eine Weile am Ufer stehen und stieß mit dem Fuß ein paar Steine ins Wasser.
»Störe ich dich?« fragte eine Mädchenstimme.
Diese Stimme kannte Malcolm. Er versuchte angestrengt, sie wiederzuerkennen, da die Frau, der sie einst gehört hatte, zusammen mit den übrigen hohen Göttern längst in den Bereich der Mythologie verschwunden war. Er hatte seine beiden Raben ausgesandt, um nach der Besitzerin von genau dieser Stimme zu suchen, und diese durchforschten die Erde viele Tage lang, ohne auch nur eine Spur von ihr zu finden. Sie existierte nicht mehr, allenfalls in der Erinnerung einiger außergewöhnlicher Menschen.
»Bist du das?« fragte er dümmlich.
»Natürlich bin ich’s«, antwortete die Stimme gereizt. »Für wen hast du mich denn gehalten, für Bismarck?«
Malcolm kletterte die Uferböschung hinab, rutschte aus und fiel ins Wasser. Im Fallen schoß es ihm durch den Kopf, daß er gar nicht schwimmen konnte, und obendrein hatte er auch noch vergessen, daß der Bach lediglich sechzig Zentimeter tief war. In der Panik dachte er nicht mal an den Tarnhelm, und er hätte sich wohl schon mit der Aussicht auf den bevorstehenden Tod durch Ertrinken abgefunden, wenn er nicht von Floßhilde aus dem Wasser gefischt worden wäre.
»Tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Habe ich dich etwa erschreckt?«
Das war wieder einmal eine dieser verfluchten Suggestivfragen, weshalb Malcolm, anstatt sich mühsam irgendeine abgedroschene Phrase abzuringen, als Antwort einfach die Arme um die Rheintochter warf und sie zwar unbeholfen, aber erfolgreich küßte. Ihm war nicht einmal im entferntesten in den Sinn gekommen, daß sie vielleicht etwas dagegen haben könnte, doch zum Glück schien es ihr im Gegenteil sogar zu gefallen.
»Wo, zum Teufel, hast du bloß die ganze Zeit über gesteckt?« fragte er schließlich.
Floßhilde lächelte. »Hast du mich vermißt?« erkundigte sie sich überflüssigerweise.
»Ich hatte schon gedacht, du wärst mit den anderen verschwunden.«
»Oh, dann hast du mich also wirklich vermißt?«
»Natürlich habe ich dich vermißt, sehr sogar. Wo bist du gewesen?«
»Im Urlaub.«
»Im Urlaub?«
»Ja«, entgegnete Floßhilde, die gar nicht verstehen konnte, warum Malcolm das so seltsam fand. »Wir hatten eigentlich geplant, dieses Jahr wieder ins Nildelta zu fahren, aber dann ist uns diese Geschichte mit Ortlinde dazwischengekommen, und als wir das überstanden hatten, war schon alles ausgebucht. Deshalb haben wir die Ferien bei unseren Vettern auf dem Meeresboden verbracht. Das war ganz schön langweilig. Meine Vettern sind
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