Wir hatten mal ein Kind
Gedanke an den Tod |159| rührt ihn an. Er hat Frieda tot gesehen, er hat einen kleinen Bruder tot gesehen, aber das geht ihn doch nichts an. Er ist elf Jahre, er lebt und er wird immer leben.
Aber springen muß man. Er ist wild und erregt, er geht auf Christiane zu, und er sagt schluckend: Tia, jetzt faßt du mich an, und wir springen zu der kleinen Scholle dort.
Keine Antwort.
Es ist ganz nah, wenn wir es richtig abpassen.
Nichts, kein Wort, keine Antwort.
Tia! Wenn du mich jetzt nicht anfaßt, muß ich dich schlagen. Ich schlage dich ins Gesicht, Christiane.
Er wartet. Lange, lange Stille.
Wenn du mich schlägst, springe ich ins Wasser, sagt Tia leise.
Wieder lange Stille. Dann dreht er sich auf den Hacken um, bohrt die Hände in die Taschen, geht an den Schollenrand und springt ohne ein einziges Wort zu der kleinen Scholle hinüber. Sie sieht ihn noch einmal ferner springen, einen grauen Schatten. Dann ist er von der dichten Dämmerung verschluckt.
Ein Gefühl namenloser Verlassenheit erfüllt ihr Herz. Noch nie in ihrem Leben ist sie so grenzenlos allein gewesen. Sie denkt kaum noch an Johannes, kaum noch an das Heim, an den klingelnden Schlitten mit den Rappen. Das alles ist eine Sekunde da, und sie möchte es halten, aber schon versinkt es. Doch mit dem Glucksen des Wassers, dem Brausen der See, dem Fauchen des Windes steigt etwas anderes, Körperloses auf und dringt in sie ein. Es ist wie ein süßes Gefühl von Kälte, etwas wie Hingebung – noch nie fühlte sie ihren Körper so stark, hatte ihn so lieb, und noch nie war sie so bereit, ihn aufzugeben.
Nein, nichts mehr von einem Kind auf einer Scholle. Ein Stück Eis, ein Hauch Wind, ein Spritzer Salzwasser, hingegeben und angenommen, keine Christiane Freiin von Fidde mehr …
Plötzlich fühlt sie, daß sie nicht mehr allein ist. Er ist wieder |160| da. Natürlich ist er wieder da. Er wäre doch nicht der Johannes Gäntschow, wenn er sie im Stich gelassen hätte.
Du, Tia, sagt er eifrig, und seine Stimme klingt für sie merkwürdig frisch, ich bin ein ganzes Stück weiter gesprungen. Wir kommen bestimmt ans Ufer. Wenn nicht ans Fidder, dann ans Rohmer.
So, sagt sie.
Also los, sagt er.
Sieh doch, sagt sie und zeigt auf den Leuchtturm.
Ach, der Leuchtturm von Sagitta hatte nun sein weißes, strahlendes Auge ganz aufgeschlagen, aber sein Strahl wandert senkrecht über sie fort. Wir sind längst aus dem Bodden heraus, sagt Christiane, wir treiben auf der offenen See. Sie späht neugierig nach ihm. Sie ist sehr gespannt darauf, was er sagen wird.
Na also, sagt er bereitwillig, dann hast du recht gehabt, Springen hat keinen Zweck mehr. Und in leichtem Ton: Dann müssen wir eben auf einen Fischer warten.
Du hast doch gesehen, sagt sie ärgerlich, denn es fuchst sie, daß er sie immer trösten will und belügt, wie die Fischer ihre Kähne raufgezogen haben. Bei dem Eisgang ist keiner unterwegs.
Dann kommt eben jemand anders, sagt er gleichmütig. Irgendwer kommt immer. Die ganze Ostsee ist ja bloß ’ne Waschschüssel.
Wer wohl heute kommen soll, wo alle Häfen vereist sind.
Er lacht. Zum Beispiel wir. Warte nur, Tia, ich fange gleich zu rufen an. Ich will nur erst einen Apfel essen. Ich habe mächtigen Hunger. Für dich habe ich auch einen.
Danke, nein.
Den Apfel sollst du aber essen.
Nein.
Aber bestimmt. Sonst …
Schlägst du mich ins Gesicht.
Und du springst ins Wasser. Ich weiß schon. Also nimm.
Sie lachen beide. Sie essen ihre Äpfel. Plötzlich ist die |161| Stimmung ganz anders geworden, ob das nun die Äpfel machen, oder was es ist.
Dann fängt er an zu rufen: Ahoi! ruft er, ahoi! Zur Abwechslung ruft er manchmal auch: Mann über Bord!
Es hört sich ziemlich sinnlos an, wenn man die See in den Schreipausen rauschen hört.
Ach, laß das doch, bittet sie auch. Ich weiß nicht, es klingt so komisch.
Aber nun fängt er erst recht an zu rufen, was ihm gerade in den Kopf kommt. Butterhaufen! ruft er, Speckhaufen! ruft er. Speckbutterhaufen! ruft er und den alten Echoreim: Wer ist der Bürgermeister von Wesel?
Aber die See hat kein Echo. Sie rauscht eben weg, es klingt so sinnlos, dies Rauschen in dunkler Nacht, als fräße sie sich selbst auf. Und langsam, langsam gleitet der Leuchtturm weiter zurück, seine weißen Flammenspeere, die er zu Anfang hoch über ihre Köpfe fortschoß, treffen sie jetzt gerade ins Gesicht – und ihr Gesicht scheint ihm dann erschreckend leblos und starr.
Komm, Tia, wir gehen jetzt ein Stückchen
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