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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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leise über die Veranda und öffnet die Tür zum Zimmer. Während er das tut, fällt ihm plötzlich ein, daß es eigentlich sonderbar ist, daß ihm Marder sein größtes und schönstes Zimmer gegeben hat, dann aber fällt ihm ein, daß man bei diesem Zimmer nicht den Haupteingang benutzen muß, sondern sich seitlich ungesehen einschleichen kann. Darum also – aber er wird jetzt nicht daran denken, er hat anderes vor.
    Er geht sachte in das Zimmer, aus allen Winkeln dringen die Schlafgeräusche. Sie schlafen zu zweien und dreien in einem Bett. Sie haben in den letzten Nächten nicht viel Schlaf abbekommen, darum schlafen sie so fest. Der große, früher so selbstsichere Mann mit dem verwirrten Herzen steht lautlos horchend in der Mitte des Raums und lauscht auf all die Atem. Sie sind alle sein, sind alle Stück von ihm, Teil seines Lebens – mögen sie ihn einen rohen Kerl schelten, sie sind doch ein Teil seines Lebens!
    Er geht leise an den Schrank, in den er seine Dienstsachen gelegt hat, und findet auf den ersten Griff im Dunkeln die Taschenlaterne. Er geht leise in die Ecke am Ofen. Dort steht etwas allein ein Bett, darin schläft einer allein. Es ist Ernst, den man nicht mit den andern Kindern zusammen schlafen lassen kann. Der Landgendarm Wilhelm steht eine lange Weile bewegungslos vor diesem Bett. Der Atem des Jungen geht still und sanft, nun ist er ruhig, nun ängstet ihn nichts mehr, jetzt verspottet ihn keiner. Der Vater hat gemerkt, daß der Ernst weiß, er ist anders als die andern Kinder, manchmal hat er einen Blick hilfloser Angst, manchmal sitzt er da, als versuchte sein armes, blödes Hirn nachzudenken – aber kann man ihm helfen? Man muß ihn anschnauzen, daß er sich zusammenreißt. Wenn er vor dem Vater Angst hat, denkt er nicht an seine Angst vor den andern.
    Der Vater hat die Taschenlampe angeknipst und beleuchtet den Kopf des Jungen. Der schläft ruhig weiter. Ja, es ist |202| noch immer dasselbe Gesicht, das Wilhelm von je so gehaßt hat, der birnenförmige Kopf mit den häßlichen Buckeln, die fliehende Stirn, die breiten, abstehenden Ohren, das schwache Kinn. Aus dem Mund fließt etwas Speichel. Aber der Vater sieht das jetzt mit andern Augen. Es ist ein armes, kleines Gesicht. Die Schatten unter den Augen sind so dunkel, und der Mund des Achtzehnjährigen ist klein, sanft und zart, wie der Mund eines kleinsten Kindes. Sonst hat Wilhelm sich immer über die Sabberei empört, jetzt holt er umständlich ein Taschentuch vor und wischt den Mund ab. Er sieht nun wieder auf das Kind, er prüft es lange, aber eigentlich prüft er nicht das Kind, er prüft das eigene Herz. Ja, er wird Frieden schließen mit seinem Makel, er wird sich nicht mehr schämen und wird es nicht mehr schlagen. Er wird seine Späße mit ihm machen wie mit den andern Kindern.
    Er gibt einer plötzlichen Eingebung nach, beugt sich über das Bett und küßt den Jungen auf den Mund. Der wacht auf von dem harten, kratzenden Bart. Zuerst starrt er verständnislos in das nahe, große Gesicht. Dann verzieht sich sein Mund in namenlosem Schrecken, er stemmt die Arme gegen des Vaters Brust, aus seiner Kehle kommen seltsame Gurgellaute.
    Ernst, sagt der Vater sanft, ich tu dir doch nichts, Ernst.
    Aber der Junge ist verrückt vor Angst. Dies dunkle Zimmer, der enge Lichtkreis mit dem großen Gesicht des Vaters – er möchte die Mummi um Hilfe rufen, aber in seiner Angst kommt er nicht auf Worte. Vielleicht ist da wieder die große Lokomotive, die er heute nachmittag war, oder das Feuerwehrauto, das ihn neulich in der Nacht besucht hat – er schreit angstvoll: Tut! Tut! Pschscht! Pschscht! Tut! Tut!
    Der Vater sieht zu den Betten, er wehrt dem Jungen: Nicht Ernst, leise.
    Und er legt die Hand auf des Jungen Mund. Aber der beißt zu in seiner Angst und schreit nur noch lauter: Tut! Tut! Pschscht! Pschscht!
    Zugleich riecht der Vater, daß der Junge sich wieder vergessen |203| hat. Der Vater wird wütend, er schreit den Jungen an: Bist du ruhig, du Schwachkopf! und drückt den Kopf mit Gewalt in die Kissen zurück. Der Junge brüllt nur noch lauter, die Stimmen der andern Kinder erheben sich aus den Betten: Vater, tu dem Ernstel nichts. Die kleine Eva schreit: Hau nicht, Vater. Ein Kleines fängt an zu heulen …
    Plötzlich steht die Frau im Nachthemd vor ihm. Jetzt melde ich es aber dem Landrat! Alle sagen, du darfst das Kind nicht mehr behalten …
    Er sieht fassungslos seine demütige, verweinte Frau an. Frieda, sagt er, ich wollte

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