Wir sind doch Schwestern
verteidigen. Ich weiß, die Vorstellung ist nicht angenehm, aber wir sind im Krieg. Und wir können nicht davon ausgehen, dass die Alliierten wissen, dass wir die Nazis auch nicht leiden können. Nun hören Sie auf zu schmollen. Machen Sie sich frisch, dann werden wir zu Abend essen und uns ein kleines Lager im Stall herrichten.«
Nach dem Essen setzten sie sich vors Radio. Der deutsche Dienst der BBC berichtete, dass die Nazis die Rheinbrücke bei Wesel gesprengt hatten. Sie zogen sich demnach ins Ruhrgebiet zurück und ließen die Alliierten auf der linken Rheinseite hinter sich. Hoffentlich ist Gertrud rechtzeitig aus Duisburg herausgekommen, dachte Katty.
»Was bedeutet das für uns?«, fragte sie Heinrich.
»Dass der Krieg länger dauert. Die Alliierten werden sich bei uns sammeln. Engländer, Amerikaner und Kanadier werden den Rhein vermutlich in Xanten überqueren, denn in Wesel ist er breiter. Katty, wir werden hier noch eine Weile ausharren müssen.«
Katty und Heinrich hatten ein Nachtlager auf der Tenne hergerichtet. Auf Licht würden sie auch in dieser Nacht verzichten müssen. Elektrisches Licht war zu hell und Kerzen verboten sich zwischen Heu und Stroh von selbst.
»Ich werde die erste Nachtwache übernehmen«, bot Heinrich an. »Und wenn ich in ein paar Stunden die Augen nicht mehr offen halten kann, wechseln wir uns ab.«
Katty war hundemüde, aber nun, da sie keine Ablenkung mehr hatte, ließen sich die Gedanken an Theodor nicht mehr verdrängen. Im Dunkeln ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Falls Heinrich ihr Weinen bemerkte, so reagierte er nicht darauf. Ob es ihm genauso ging? Oder bewahrte ihn die Sorge um den Hof momentan noch vor der Trauer um seinen einzigen Sohn? Sie überlegte, ob sie mit Heinrich über Theodor reden konnte oder ob er das als allzu indiskret empfände, sie entschied sich, zu schweigen, und fiel in einen unruhigen Schlaf. Als Heinrich sie vorsichtig weckte, stellte sie fest, dass sie mit dem Kopf auf seinen Beinen lag. Sie zuckte zurück und richtete sich auf.
»Sie sind dran. Ich muss einen Moment die Augen schließen. Bis jetzt ist alles ruhig.«
Benommen nahm Katty das Jagdgewehr, das er ihr entgegenhielt. So wie zuvor Heinrich lehnte sie sich mit dem Rücken an einen großen Heuballen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie wenigstens die Umrisse der Tiere erkannte. Die Rinder waren ruhig. Einige schnauften vor sich hin, andere hörte man gemächlich wiederkäuen. Vielleicht sind die Alliierten ja gar nicht bei uns in Wardt, überlegte Katty. Vielleicht waren viele von ihnen bei der Sprengung der Weseler Rheinbrücke gestorben und sie hatten längst den Rückzug angetreten. Nein, das war naiv, Heinrich hatte doch gesagt, die Deutschen hätten keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Hier am Niederrhein kämpften drei Nationen gegen die deutschen Soldaten, und allein Amerika, hieß es, wäre unendlich groß mit unendlich vielen Einwohnern und Soldaten. Und die hatten schon den Ersten Weltkrieg für sich entschieden.
Heinrich rollte sich im Schlaf hin und her. Erst als er Kattys Bein gefunden, es umklammert und seine Wange daran gelegt hatte, schien er zufrieden. Katty lächelte wehmütig. Wie Theodor, dachte sie. Der hatte sich als kleiner Junge im Schlaf auch immer an irgendetwas oder irgendjemandem festhalten wollen. Sie hatte es geliebt, den Jungen im Schlaf zu beobachten. Jetzt stellte sie fest, dass es ihr ebenfalls nicht unangenehm war, seinen Vater zu beobachten. Eigentlich hätte es ihr peinlich sein müssen, zusammen mit einem Mann im Stroh zu liegen. Aber es war eben Krieg, da konnte man sich schlecht hinter der christlichen Moral verstecken, wenn es galt, Leben und Existenz zu verteidigen. Wann immer sie mit sich haderte, argumentierte sie in Gedanken mit ihrer großen Schwester, so auch jetzt. Gertrud hätte den Krieg als Ausrede nicht gelten lassen. Wo sie wohl steckte? Irgendwo auf der anderen Rheinseite, beschützt von den deutschen Soldaten? Oder wardas vielleicht sogar das größere Risiko, noch auf der Seite der Deutschen zu stehen?
Heinrichs Hand war hochgerutscht und lag nun auf ihrem Schoß. Das war Katty dann doch zu viel. Sie nahm seine Hand und versuchte sie vorsichtig auf den Boden zu legen, aber davon wurde Heinrich wach. Er maulte im Halbschlaf unverständliche Sätze, dann drehte er sich um und schlief weiter.
Der 100. Geburtstag – Samstag
Die Hörnchen des Belgiers
»Hallo, Frau
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