Wir sind nur Menschen
›Wer ein Wildpferd bändigen will, muß einen festen Schenkeldruck haben. Wer aber eine Frau bändigen will, der muß zwei Hände, zwei Augen und fünf Prozent mehr Elektrizität im Gehirn als ein normaler Mensch haben!‹« Da hatte sie geschwiegen, bewußt die Grollende spielend. Schließlich hatte er, der große Theoretiker, nachgegeben und sie versöhnt, indem er mit ihr ein gemütliches Weinlokal besuchte.
Angela Bender trat an den Ofen und riß die Klappe auf. Die Glut schlug ihr entgegen. Prasselnd warf das Holz Funken auf den Steinboden vor dem Herd. Ohne zu zögern warf sie den Brief ungeöffnet in die Flammen und schloß dann schnell die Klappe, als habe sie Angst, der Brief könne aus der Glut zurückspringen …
Dann ging sie ruhig an den Tisch und suchte aus einem Korb Strickwolle und Nadeln hervor. Es sollte ein Jäckchen für den kommenden kleinen Erdenbürger werden. Ein Jäckchen mit Kapuze und einer Troddel daran. Die Stricknadeln klapperten leise, metallisch.
Habe ich wieder etwas falsch gemacht? dachte Angela. Ob Peter in Kolumbien in Gefahr ist?
In dieser Nacht fiel der erste Schnee. Das Tal wurde weiß und sah märchenhaft aus. Die Holzhäuser bekamen hohe weiße Hauben, in den Öfen krachten die Buchenscheite noch lauter; der Einkauf im Dorf mußte mit Schlitten oder auf Skiern unternommen werden. Gleich waren auch die ersten Wintersportler da, die den Neuschnee in den Allgäuer Alpen als erste genießen wollten. Ihre Bretter zogen tiefe Furchen durch die jungfräuliche Schneedecke. Wie Staub wirbelte es hinter ihnen her, wenn sie sich die Hänge hinabschwangen.
Angela saß, in einen dicken Wollschal vermummt, in diesen Tagen viel auf dem Balkon und genoß die reine, sonnendurchflutete Luft. Ihre blasse Gesichtsfarbe verlor sich, ein wenig Braun zeigte sich auf ihrer Haut. Ab und zu kam aus Köln ein Brief von Paul Sacher, der sich eingehend nach ihrem Wohlbefinden erkundigte und versprach, seinen Urlaub nach Weihnachten in den bayerischen Bergen am Nebelhorn zu verleben. Er erwähnte in seinen Briefen nichts von Peter Perthes, der ihm allerdings schon dreimal geschrieben hatte, zuletzt aus Zapuare, vor seinem Aufbruch in den Urwald. Dr. Sacher hielt auch das Versprechen, das er Angela gegeben hatte: Peter nichts von dem Kind zu schreiben. Es fiel ihm schwer genug, die Fragen seines Freundes nach Angela mit allgemeinen Phrasen zu beantworten.
Langsam rückte das Weihnachtsfest näher. Die Zeit schlich in Angelas Augen dahin, als würde sie auf dem Rücken einer Schnecke getragen. Der Unfall auf der Fürst-Pückler-Straße, der kleine Horst von Barthey, die Erste Hilfe in ihrer Kölner Praxis, die Tage danach in der Klinik, die Einladung im Hause von Barthey … Peters erster Kuß an jenem Abend, an dem sie fühlte, daß Liebe etwas Unaufhaltsames ist … Das alles lag schon zu weit zurück, als daß es stiller Stunden bedurft hätte, um sich daran zu erinnern. Diese plötzliche Erkenntnis erschreckte sie doch sehr. Hatte ihr Peter Perthes so wenig bedeutet, daß sie schon jetzt, nach wenigen Monaten, das Leben hinter sich wie einen Film betrachten konnte, zu dem sie kaum noch eine innere Verbindung hatte? Das konnte doch nicht möglich sein … Oder hatte sich ihr Herz durch den Willen, vergessen zu wollen, so verhärtet, daß dieses Vergessen nun Wirklichkeit geworden war? Sie stand etwas entsetzt vor diesen Erkenntnissen, vor der starken Wirkung ihres Willens.
Am ersten Advent fuhr sie mit ihrer Bauernfamilie in die Kirche nach Schöllang. Der Bauer selbst lenkte den Schlitten – zwei Pferde mit lustigem Schellengeläute zogen den Schlitten in leichtem Trab durch das Illertal.
Der verharschte Schnee knirschte unter den breiten Stahlkufen. Trotz der strahlenden Sonne war es kalt. Sie zogen dicke Schafspelze an und nahmen flauschige Wolldecken mit.
Als sie vor der Kirche aus dem Schlitten stiegen, stutzte ein Herr in einem eleganten Gehpelz und trat neben das Kirchenportal, um besser sehen zu können. Dann schüttelte er den Kopf, folgte Angela Bender, dem Bauern, der Bäuerin und dem Großknecht in die Kirche und stellte sich hinten unter der Orgelbühne so lange in eine Ecke, bis die Messe zu Ende war. Dann eilte er als erster aus der Kirche und stellte sich neben den Pferdeschlitten.
Einen Augenblick lang erschrak Angela, als ein großer Herr den Hut zog und sie fragte: »Ich bitte sehr um Verzeihung – aber sehe ich recht? Frau Dr. Bender?«
Sie schaute zu ihm empor, sah ein
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