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Wir wollen Freiheit

Wir wollen Freiheit

Titel: Wir wollen Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Gerlach
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wieder demonstriert und bald auch in den Nachbarstädten. Es ist der Ärger über den Tod des Obsthändlers, der Frust über die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit und dazu kommt schnell der Zorn auf die Brutalität der Polizei. Mit Tränengas und scharfer Munition geht sie gegen die Proteste vor.
    Mit aller Gewalt versucht die Regierung den Aufstand einzudämmen: durch Polizeieinsatz und strikte Medienzensur. Bis zum 29.   Dezember kommt der Aufstand im tunesischen Fernsehen nicht vor, aber dafür bei den ausländischen Sendern. Zudem gehört Tunesien zu den Ländern der Region mit den meisten Internet-Usern pro Einwohnerzahl. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist online. Zum Vergleich: In Syrien sind nur 18   Prozent angeschlossen. Die Kluft zwischen Regierung und Bevölkerung wird immer offensichtlicher und tiefer. Eingefangen hat sie der Fotograf, der Präsident Ben Ali ins Krankenhaus begleitet, als dieser schließlich – was bleibt ihm anderes übrig? – Mohammed Bouazizi besucht. Der Gesichtsausdruck Ben Alis irgendwo zwischen Langeweile und Verachtung zeigt, dass es dem seit 23   Jahren regierenden Präsidenten, der da am Bett eines bandagierten Kranken steht, ganz offensichtlich nicht darum geht zu helfen: Er verspricht zwar Jobs für die Jugend, aber eigentlich will er nur seinen Sessel retten.
     
    Eine Begegnung ähnlicher Art inspiriert den Rapper Hamada Ben Amor zu seinem Hit der Revolution: Das Video zu seinem Song beginnt mit dem Besuch Ben Alis in einer |106| Schule. Dort verspricht er einem kleinen Jungen – offensichtlich das Alter Ego von Hamada Ben Amor – eine großartige Zukunft. Schnitt. In der nächsten Szene steht er als junger Mann mit schwarzem Basecap und Bomberjacke in einem lausigen Hauseingang und raucht eine Zigarette. Man möchte weder in seiner Haut stecken, noch ihm im Dunklen begegnen. »Präsident, dein Land stirbt!«, lautet der Titel des Refrains. »Du, Präsident lebst in Saus und Braus und wir, das Volk, wir sterben und unsere Stimme wird nicht gehört«, singt er. Es geht um Jobs, die fehlen, um die Pressefreiheit, die eingeschränkt und die Verfassung, die nicht eingehalten wird. Der Rapper wird verhaftet und der Ärger darüber bringt noch mehr Jugendliche auf die Straße: »Lilbilad, lilbilad – fürs Land, fürs Land«, singen sie, den Refrain seines Liedes.
    Eine wichtige Säule des Aufstands sind die Arbeiter. Nicht die nationale Gewerkschaftsorganisation, aber lokale Gruppen sind von Anfang an mit auf der Straße. Parallel zu den Demonstrationen entwickelt sich in Tunesien eine Facebook-Revolte. Effektiv und offensichtlich vorbereitet heizen zugleich einige Dutzend Aktivisten dem Staat im Internet ein. Sie posten und twittern, und wenn ihnen die Regierung das Account lahmlegt – die tunesische Regierung setzt in dieser Zeit neue Maßstäbe was Internetzensur angeht   –, dann eröffnen sie schnell ein neues. Im Oktober 2010 hatten sich Oppositionsgruppen zu einem Aktionsbündnis zusammengetan. Auch hier kommen Liberale, Linke und Islamisten zusammen. Das gemeinsame Ziel und die Toleranz gegenüber den Vertretern anderer Gruppen ist der Motor, der den Aufstand zum Laufen bringt.
    Es ist eine Revolte des ganzen Volkes: Junge, Alte, Arme und Reiche sind vertreten. Doch das stimmt nicht ganz, natürlich ist nicht das ganze Volk auf der Straße. Die Mehrheit der Tunesier sitzt zu Hause und viele haben solche Angst vor |107| der Repression, dass sie sich noch nicht einmal trauen, die Videos von Demonstrationen auf ihre Facebook-Seiten zu posten.
    Dann geht alles sehr schnell. Ben Ali wendet sich mit einer Rede an die Nation und verspricht 300   000 neue Jobs. Als Nächstes entlässt er seinen Innenminister, dann die ganze Regierung. Doch es hilft nicht, der Protest geht immer weiter, wird größer und selbstbewusster. Am 14.   Januar kommt es zu Szenen der Verbrüderung zwischen Demonstranten und Armee, der Ausnahmezustand wird verhängt und um 18.50   Uhr verkündet Ministerpräsident Mohammed Ghanouchi die Amtsunfähigkeit von Zine Abdine Ben Ali. Zu diesem Zeitpunkt soll er schon im Flugzeug gesessen haben. Nachdem mehrere Länder ihm keine Landeerlaubnis erteilten, landete er schließlich spät am Abend in Dschidda in Saudi Arabien.
     
    Tage später trifft sich die Arabische Liga zum Gipfel in Scharm al Scheich; lauter versteinerte Gesichter. Die Herrschenden der Arabischen Welt   – Demokrat ist keiner von ihnen – stehen unter Schock. Die staatlichen

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