Wo die Liebe beginnt
hatte, sofort zurück. Wird jetzt eine Geschichte folgen, die ich gar nicht hören will? Wird sie jetzt über die Dinge reden, über die meine Eltern neulich diskutiert haben â Vergewaltigung beim ersten Date, Gefängnis, Drogen? Oder läuft es darauf hinaus, was ich mir immer ausgemalt habe und was mich bis jetzt nie besonders gestört hat â ein liebloser One-Night-Stand, der keinem von beiden etwas bedeutet hat? Tja, es ist wohl klar, dass ich ein Unfall war, aber ich wäre gern ein Unfall, bei dem echte Gefühle im Spiel waren.
»Wie hast du ihn kennengelernt?«, will ich wissen. Mein Herz rast wie verrückt.
»Wir sind zusammen in die Schule gegangen«, antwortet sie. Dann erzählt sie, dass sie ihn seit der vierten Klasse gekannt hatte, aber erst in dem Sommer nach dem Schulabschluss richtig kennenlernte. »Wir waren in dem Alter wie du jetzt. Auf einer Party sind wir uns dann wieder über den Weg gelaufen â¦Â«
Marian holt tief Luft. An ihren eingefrorenen Gesichtszügen kann ich erkennen, dass sie fieberhaft nachdenkt. Ich will geduldig warten, doch nach einigen Augenblicken der Stille halte ich es nicht mehr aus, und ich stelle die nächste Frage: »Und ⦠wie war er so?«
Sie atmet wieder tief durch und redet endlich, langsam, vorsichtig. »Er war klug. Erfahren. Wenn er gewollt hätte, wäre er richtig gut in der Schule gewesen.«
Ich nicke. Ich spüre zum ersten Mal in meinem Leben eine Art Verbindung zu meinem leiblichen Vater.
Gedankenverloren fährt sie fort. »Er war nicht gerade ein Rebell, aber er ging seinen eigenen Weg. Was die anderen dachten, war ihm egal â und das war nicht nur eine coole Pose. Es war ihm wirklich egal. Ich war anders, aber ich habe ihn bewundert. Wir alle himmelten ihn an.«
»War er ein Einzelgänger?«, will ich wissen.
»Ja, irgendwie schon. Wenigstens in der Schule. Da konnte er mit den anderen nicht viel anfangen. Aber auÃerhalb der Schule hatte er Freunde, er spielte in einer Band. Er war also kein totaler Einzelgänger. Einfach ⦠unabhängig.«
»Er war in einer Band?«, frage ich, gleichzeitig begeistert und erleichtert, dass er kein doofer Sportler war. Ein Footballspieler, der reihenweise Mädchen flachlegt, ist irgendwie peinlicher als ein Musiker, der dasselbe macht.
»Ja«, bestätigt sie. »Er war sehr talentiert. Er spielte Gitarre, Klavier und ein bisschen Saxophon. Und er hatte eine schöne Stimme. Wie du.«
Ich muss lächeln. »Wie sah er aus?«
Jetzt zögert sie nicht mehr. »Umwerfend. Dunkles Haar. Schöne Augen. Du hast seine Augen geerbt.«
»Wirklich?« Mein Herz klopft noch schneller.
»Ja. Exakt dasselbe Blaugrau mit diesem dunklen Ring. Form und GröÃe sind auch gleich.« Sie starrt an die Wand hinter mir, als versuchte sie, sich an noch mehr Einzelheiten zu erinnern.
»Hast du Bilder von ihm?«, frage ich. Mir ist schwindlig vor Aufregung.
»Eins.« Sie steht auf. Ein paar Minuten später kommt sie mit einem schmuddeligen Umschlag, der früher einmal weià war, zurück. Darin liegt ein Blatt aus einem Notizblock, dreimal gefaltet und mit wildem Gekritzel beschriftet. Als sie das Papier auseinanderklappt, lehne ich mich neugierig nach vorne, um ein paar Wörter zu entziffern. Still liest sie ein paar Zeilen, faltet das Blatt zusammen und legt es wieder in den Umschlag. Dann zieht sie ein Foto heraus. Sie beiÃt sich nervös auf die Unterlippe und betrachtet das Bild. Endlich reicht sie es mir. »Das ist er«, sagt sie leise. »Und ich liege neben ihm.«
Ich betrachte das Foto meiner leiblichen Eltern. Ich bin verblüfft, weià aber nicht genau, wieso. Es ist eine Nahaufnahme, ein bisschen verwackelt, und zeigt eher ihn als sie, ganz so, als hätte er ein Selbstporträt mit ausgestrecktem Arm geknipst. Beide liegen auf einer Decke und kneifen die Augen zusammen, als wäre ihnen die Sonne zu hell. Ich kann den Himmel nicht sehen, vermute aber, dass er tiefblau und wolkenlos ist. Ihre Wangen berühren sich, ihre sind ganz rot. Er hat den Arm um sie gelegt, seine Hand ist von ihren langen, sonnenblonden Haaren bedeckt. Das Foto ist ziemlich grobkörnig, und auf seinem Gesicht liegt ein Schatten, aber ich erkenne genau, dass er ein absoluter Traumtyp ist, jedenfalls auf diese spezielle künstlerische Art. Dunkles Haar, helle Haut, volle Lippen und
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