Wo die Wahrheit ruht
Ursache, Bernie.”
Als sie den Hörer gerade eingehängt hatte, klingelte das Telefon erneut.
“Hier ist Victor Lorry”, sagte der Anrufer in barschem Ton.
Grace seufzte erleichtert. “Mr. Lorry. Bin ich froh, dass Sie anrufen. Ich weiß nicht, ob Sie schon erfahren haben, dass Steven Hatfield tot ist und …”
“Das
weiß
ich.” Ungerührt fuhr er fort: “Ist das Bild verkauft? Haben Sie deswegen angerufen?”
Der Mann verschwendete keine Worte. Das wusste sie zu schätzen – bis zu einem gewissen Grad. “Ich wollte mit Ihnen über den Arroyo reden.”
“Was gibt es da zu bereden?”
“Zum einen wird er zu einem Spottpreis angeboten.”
“Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie Kunstexpertin?”
Seine Unverschämtheit ging ihr langsam auf die Nerven. “Ich bin Museumskuratorin, Mr. Lorry. Auch wenn ich keine Spezialistin für die Kunst des amerikanischen Westens bin, so habe ich doch meine Kontakte. Mir wurde versichert, dass Arroyos 'Markttag' viel mehr wert ist, als Steven Hatfield angenommen hatte. Ich habe den Preis daher auf hunderttausend Dollar angehoben.”
“Dazu hatten Sie kein Recht!”, bellte er.
Grace war verblüfft. “Wie bitte?”
“Ich sagte, Sie hatten kein Recht, das zu tun. Steven hatte schon einen Kaufinteressenten zu dem Preis an der Hand, auf den wir uns verständigt hatten. Namen und Telefonnummer finden Sie in meinem Ordner. Sie müssen lediglich Kontakt zu dem Mann aufnehmen und das Geschäft über die Bühne bringen.”
“Ich habe bereits mit Mr. Lombardi gesprochen. Als ich ihm die Situation erläutert habe, bat er mich noch um ein wenig Bedenkzeit.”
“Da können Sie lange warten. Er wird das Bild nicht kaufen, nicht zu diesem Preis.” Er schnalzte ungeduldig mit der Zunge. “Hören Sie, ich komme heute vorbei und hole das Bild ab.”
Es fiel Grace schwer, ihren ruhigen und sachlichen Ton beizubehalten. “Sie können es nicht zurückholen, Mr. Lorry. Zumindest jetzt noch nicht. Laut Vertrag läuft die Kommission für 'Markttag' bis zum …”
“Der Vertrag bestand zwischen Mr. Hatfield und mir.”
“Irrtum. Der Vertrag besteht zwischen Ihnen und der Hatfield Gallery. Als neue Besitzerin werde ich …”
Er ließ sie den Satz gar nicht erst beenden, sondern hängte gleich ein.
Fassungslos starrte Grace einige Sekunden lang den Hörer an, bevor sie ihn zurück auf die Gabel legte. Sie hatte über die Jahre schon mit vielen Kunstsammlern und Händlern zusammengearbeitet, aber ein dermaßen unhöflicher Mensch wie Victor Lorry war ihr noch nie begegnet. Was war sein Problem? Wieso reagierte er wütend auf die Aussicht, mehr Geld zu verdienen?
Ein flaues Gefühl breitete sich in Grace' Magengrube aus, als ihr Angies Bemerkung wieder einfiel: “Es sei denn, Steven oder der Händler, oder beide zusammen, sind an einem möglichst schnellen Verkauf interessiert.”
Sie konnte sich nur zwei Gründe denken, warum ein Händler darauf erpicht sein mochte, ein Gemälde so schnell wie möglich abzustoßen: Entweder war das Werk gestohlen oder gefälscht.
Sie versuchte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, setzte sich an den Schreibtisch und klappte ihren Laptop auf. Die Webseite des Museums verfügte über einen mit Passwort geschützten Bereich, auf dem autorisierte Personen eine Liste gestohlener Kunstwerke einsehen konnten. Nachdem sie das Passwort eingetippt hatte, überflog sie die Liste. Die Titel der gestohlenen Werke, ihr jeweiliger Wert und das Datum des Diebstahls rollten über ihren Bildschirm.
Arroyos “Markttag” stand nicht auf der Liste.
Beunruhigt loggte sie sich aus. Sie ging zu dem Bild hinüber und fasste die zweite Möglichkeit ins Auge. Aber selbst nach einer gründlichen Prüfung konnte sie nicht sicher sagen, ob der “Marktag” echt war oder doch eine Fälschung. Die Kunst des amerikanischen Westens gehörte zwar nicht zu ihren Spezialgebieten, doch sie besaß zumindest ein gewisses Grundwissen über Eduardo Arroyos Arbeitsweise. Er war ein akribisch arbeitender Künstler gewesen, der versessen so lange an jedem Detail gefeilt hatte, bis die Menschen auf seinen Bildern dermaßen real wirkten, dass sie fast von der Leinwand hätten heruntersteigen können.
Diese Qualität ließ sich in dem Gemälde, das da vor ihr stand, durchaus wiederfinden. Sie zeigte sich in der Darstellung des Aztekenschmucks, der auf bunten Decken ausgebreitet war, ebenso wie bei der Darstellung der im Schatten der Arkaden sitzenden Händler oder dem von
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