Wo niemand dich sieht
Mit ihrer roten Haarmähne sah sie aus, als wäre sie einem Gemälde von Tizian entsprungen.
Kaum hatte ich die Tür geöffnet, wurde ich auch schon stürmisch umarmt. »Hallo, Mac«, lachte sie und betrachtete mich mit einem strahlenden Grinsen.
»Mein Engel!«, juchzte ich, packte sie und wirbelte sie herum. »Habe dich gar nicht so früh erwartet. Wie hast du das geschafft? Bist wohl gleich ins nächste Flugzeug gesprungen, wie?«
Sie küsste mich aufs Ohr. »Klar. Der Herr ruft, wir kommen.« Dann sagte sie über meine Schulter: »Hallo, und wer sind Sie?«
Ich stellte Sherlock behutsam wieder ab. Zusammen drehten wir uns um und entdeckten Laura in einem verbeulten Jogginganzug und vom Schlaf zerwühlten Haaren. Grubster strich ihr um die nackten Füße.
»So schnell schon, Mac?«
»Das ist Sherlock, Laura. Hab sie auf der Akademie durch die Sport-Abschlussprüfung gebracht. Ohne mich wäre sie glatt durchgefallen.«
»Ha! Er ist zwar bekannt für seine Muckis, aber ich für meinen Verstand.« Sherlock und Laura schüttelten sich die Hände. Sherlock beäugte Laura, wie eine Glucke eins ihrer Küken beäugen würde.
»Wo bleibt Savich?«, erkundigte ich mich und zog Sherlock noch einmal kurz an mich. »Du hast ihn doch mitkommen lassen, ja, Sherlock? Oder musste er zu Hause bleiben und auf Sean aufpassen? Hat sich in der Rolle sicher schon bewährt, oder?«
Sie lachte und stach mir in die Rippen. »Dieser Mann ist ein Engel, zweifle ja nicht daran. Wir haben Sean bei seinen Großeltern abgeliefert, Savichs Eltern. Sie konnten es kaum abwarten, dass wir verschwinden, damit sie ihn nach Strich und Faden verwöhnen können.
He, es ist schon nach acht, Mac. Dillon ist an den Klippen unterwegs und sieht sich nach Spuren um. Er wollte, dass ich warte und dich noch schlafen lasse, aber ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Hab mir Sorgen um dich gemacht. Geht’s dir gut, Mac, ehrlich? Und dir auch, Laura?« Durch die sofortige vertraute Anrede wusste ich, dass Sherlock Laura mochte.
Ich fragte mich allerdings, ob Savich Werwolfspuren erkannte, wenn er auf welche stieß. »Letzte Nacht war alles ruhig. Vielleicht halten die Bären ja gerade Winterschlaf.«
»Dillon und ich sind prima Bärenjäger. Jetzt sind wir zu viert, Mac, ihr seid also nicht mehr allein.« Sherlock fing an, mich genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei sagte sie kein Wort, berührte nur kurz mein Gesicht, meine Arme. Dann zog sie mir gar das Sweatshirt hoch und beäugte meine Heldenbrust. »Wie geht’s den Rippen?« Ich spürte, wie sie leicht mit den Fingerspitzen über meinen noch immer mit Blutergüssen übersäten Brustkorb strich.
»Na ja, ich werde zwar noch ziemlich schnell müde, aber es geht mir mit jedem Tag besser. He, Sherlock, zieh mir nicht die Hosen runter.«
»Och, na gut.« Sie richtete sich wieder auf und musterte mich prüfend. »Und wie geht’s euch beiden nach dieser Sache mit dem Schlafmittel?«
Laura antwortete: »Ich fühle mich zwar noch immer ein bisschen groggy, aber sonst bin ich fast wieder die Alte.«
»Da ich ein richtiger Mann bin, hatte das Zeugs kaum eine Wirkung auf mich.«
Dafür bekam ich einen Knuff in den Arm.
»Also ich mache jetzt Kaffee«, verkündete Laura. »Wer will keinen?«
Niemand meldete sich.
Ich hörte, wie sie sich in der kleinen Küche zu schaffen machte, die durch eine Bar, an der drei Hocker standen, vom Wohn- beziehungsweise Esszimmer abgetrennt war. Krächz.
»Das ist Nolan, und das war sein erstes Wort für den Tag.« Laura hatte zuvor das Tuch vom Käfig genommen.
Dann rief sie: »Ihr könnt den Käfig öffnen, wenn ihr wollt. Die Fenster sind alle zu, es geht also in Ordnung. Wenn ihr ihm außerdem ein paar Sonnenblumenkörner in den Käfig streuen könntet, danke. Ich mache ihm gerade etwas Toast. Jawohl, Grubster, ich hab dich gehört, die Welt hat dich gehört. Ich mache gleich eine Dose Katzenfutter für dich auf, immer mit der Ruhe.«
Ich sah zu, wie Sherlock Nolans Käfigtür öffnete, sah, wie er sie einen Moment lang anstarrte, um sich dann Schritt für Schritt hinauszuwagen. Er blickte Sherlock mit schiefgeneigtem Kopf an und sagte: »Krächz.«
Dann hüpfte er auf die Lehne einer Zweisitzercouch. Er nahm einen Sonnenblumenkern aus Sherlocks ausgestreckter Hand, ließ ihn behutsam auf die Lehne fallen, hüpfte dann auf Sherlocks Schulter und begann an ihrem Haar zu kauen.
Krächz.
»Los, iss dein Frühstück, Nolan«, grinste Sherlock und setzte
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