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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Schleifen, das Lackieren, die Steinmetzarbeiten, das Verlegen von Installationen und Elektrizität.
    Und Paul macht das alles und ernährt sich dabei fast ausschließlich von Fleisch und trinkt fast jeden Abend einen Sechserpack. Für Justin ist der Herzanfall deshalb keine Überraschung.
    Danach erzählt ihm sein Vater, wie es sich anfühlte. Ein Gürtel schien sich immer fester um seine Brust zu spannen und die Welt wurde plötzlich dunkel. Er schwankte und stolperte vor fast fasziniertem Entsetzen über das, was mit ihm passierte, wie sein Körper sich zugleich zusammenzuziehen und auszudehnen schien. Als die Beine unter ihm nachgaben und er nach vorne kippte, versuchte er den Sturz mit seinem Arm zu bremsen, aber der war taub geworden, und er stürzte ungebremst zu Boden und schlug sich eine Platzwunde auf der Stirn.
    Das passiert im späten Frühling – einige Monate nach der Sitzung der Planungskommission –, einige Zeit später tritt Justin durch die elektronischen Doppeltüren in die Notaufnahme des St. Charles Memorial. Die Luft riecht nach Desinfektionsmitteln und Tapioka und altem Obst. Als die Türen sich sirrend hinter ihm schließen, verstummt der Verkehrslärm und wird ersetzt durch gedämpfte Stimmen und Gummiräder und leise Musik aus den Lautsprechern. Im Wartebereich hängen Leute mit benommenen Gesichtern schlaff auf Stühlen, als wären sie aus großer Höhe gestürzt.
    An der Empfangstheke lässt sich die Schwester lange Zeit, bis sie Justin bemerkt, erst als Justin sich räuspert, hebt sie den Blick von ihrem Klemmbrett. »Sind Sie verletzt?«, fragt sie. »Oder wollen Sie jemanden besuchen, der verletzt ist?«
    »Sehe ich verletzt aus?«
    Sie grinst ihn zickig an und fragt: »Name?«
    »Wollen Sie seinen oder meinen?«
    »Seinen Namen.«
    Draußen heult irgendwo weit weg eine Sirene. Er nennt ihr den Namen, sie tippt ihn in den Computer ein und schickt ihn dann einen langen, buttermilchfarbenen Gang hinunter, an dessen Wänden Edelstahltische auf Rädern stehen. Er geht schnell, und der Lärm der Sirene folgt ihm, wird lauter, pulsiert durch die Stadt, durch Beton und Stahl und Glas, wie eine schnelle Brise über Wasser, um sich mit schockierender Laustärke auf ihn zu stürzen. Er begegnet einem Arzt mit einem braunen Schnurrbart. Der Arzt geht mit schnellen Schritten auf die Notaufnahme zu und pfeift im Einklang mit der Sirene, als würde er sie zu sich rufen.
    Als er wegen seiner Frau im Krankenhaus war, spürte er Angst. Als er jetzt wegen seines Vaters im Krankenhaus ist, spürt er Hass. Er hasst diesen Ort, der versucht, ihm Menschen wegzunehmen. Er will schwarze Farbe auf die viel zu weißen Wände spritzen. Er will einem Pfleger, der eine Rollbahre in eine Richtung schiebt, die Kehle herausreißen, und dann einem anderen, der versucht, an ihm vorbeizukommen.
    Und dann hört die Sirene einfach auf, genau in dem Augenblick, als Justin vor Zimmer 343 steht.
    Er steckt den Kopf durch die Tür, und als er ihn eben wieder zurückziehen und weitergehen will, hebt der Mann auf dem Bett die Hand zum Gruß. »Dad?«, fragt Justin und zögert in der Tür. »Ich habe dich nicht erkannt.«
    Sein Vater sieht nicht aus wie sein Vater. Er sieht aus wie eine Birne, die dunkel geworden und geschrumpft ist. Bei Justins Eintreten nimmt er die Fernbedienung zur Hand und schaltet den Fernseher aus und dann gleich wieder ein. Er hängt in einer Ecke von der Decke und zeigt einen Wetteransager, der an einem Strand in Florida vor sieben Meter hohen Wellen steht.
    Bei einer Hochzeit hörte Justin Bobby Fremont einmal seinen Vater necken, er sehe aus wie ein wildes Tier, das man in einen Zweireiher gezwängt hat. Jetzt erscheint ihm das besonders zutreffend – haarig und braunhäutig, wie er ist, dabei so groß, dass er an allen Enden aus dem Bett hängt, und das alles vor dem Hintergrund dieses antiseptischen Weiß. Als Justin und sein Vater einmal nebeneinanderstanden, bemerkte seine Mutter, dass die beiden gleich groß seien. Es stimmte, aber Justin glaubte ihr nie. Es hatte etwas mit der Statur seines Vaters zu tun – die so viel breiter war als die seine –, aber noch mehr mit seiner Persönlichkeit, die sogar jetzt noch so stachelig ist, dass man die blanken Spitzen funkeln zu sehen meint.
    Über seinem Bett hängt die Schwarz-Weiß-Aufnahme einer toten Lärche. Der Stamm sieht verkrüppelt aus, jeder kahle Ast reckt sich dem Himmel entgegen.
    »Wo ist Mom?«, fragt Justin.
    »Ich habe ihnen gesagt,

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