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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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er sich schnell und sogar anmutig bewegen.
    Justin weiß nicht mehr, wo seine Mutter in dieser Zeit war. Wahrscheinlich in der Küche beim Geschirrwaschen. Oder vielleicht am Tisch, wo sie den Spargel sorgfältig in mundgerechte Stücke schnitt. Wenn er an sie denkt, sieht er sie oft dunkel durch das Fenster seines Vaters. In vielen seiner Erinnerungen bleibt sie undeutlich, in den Hintergrund gedrängt von der Laustärke seines Vaters, seiner haarigen Massigkeit.
    Justin sagte: »Du musst es nicht tun, das weißt du.«
    Sein Vater schoss noch einen Pfeil ab, doch dieser verfehlte sein Ziel und prallte von einer Kiefer ab, bevor er im Wald verschwand. Er seufzte frustriert, senkte den Bogen und zupfte die Sehne, als würde er den ersten Ton eines traurigen Lieds suchen. »Und was dann? Dann bekommt eine andere Firma den Auftrag, und die Sache wird so oder so gemacht. Dann kriegt der andere das Geld auf die Bank, macht sich einen Namen da draußen und kriegt den Anruf, wenn sich wieder mal so was ergibt. Und wo bleibe ich dann? Von Politik hast du keine Ahnung.« Er zog noch einen Pfeil aus seinem Köcher und untersuchte die Spitze. Das Metall reflektierte die Sonne und ein dünner, glänzender Strahl wanderte über sein Gesicht. »Glaubst du, ich will, dass dieses schöne Land zerstört wird?«
    »Es gibt da draußen viel schönes Land. Wir suchen uns einen anderen Canyon.«
    »Ist das deine Meinung?«
    »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er in einem nachäffenden Singsang, und sagte es dann noch einmal: »Ich weiß es nicht.« Er richtete den Pfeil auf Justin und brachte die rasiermesserscharfe Spitze bis auf wenige Zentimeter vor seine Brust. »Das solltest du dir übers Herz tätowieren lassen. Ich weiß es nicht. Nein, du weißt es nicht. Du weißt überhaupt nicht viel.«
    Paul gehört nicht zu den Vätern, die in die Kirche gehen und Golf spielen und das ganze Jahr Weihnachtslieder pfeifen. Er ist ein Vater, der gern Sachen sagt wie: »Schmerz ist eine Schwäche, die den Körper verlässt« und »Weil man weiß, dass man am nächsten Tag sterben kann, sollte man keine grünen Bananen essen«. Er riecht nach Motoröl. Seine riesigen Hände scheinen in der Lage zu sein, Telefonbücher zu zerreißen und Bäume mit einem Ruck zu entwurzeln. Unter seinen Fingernägeln hat er immer Schmutz und blaue Flecken. Oft hat er ein Sandwich in seiner Tasche, das er dann immer wieder für einen Bissen herauszieht. Wenn er sich amüsieren will, geht er in den Bi-Mart und bewertet Pistolen.
    Paul muss nicht so schwer arbeiten. Sein Geschäft läuft gut. Justin weiß das, weil er sich seit dem College um den Papierkram der Firma kümmert. Sein Vater könnte leicht mehr Männer einstellen, könnte seine Tage mit Kaffeetrinken und Vertragsverhandlungen zubringen und seine Hände weich werden lassen, aber wenn sein Name im Briefkopf steht, dann sollte er auf Zehn-Meter-Leitern steigen und den ersten und den letzten Nagel einschlagen – zumindest besteht er darauf. Es ist die Mentalität des immer an vorderster Front Seins.
    Und so steuert er inmitten seiner Mannschaft den Betonlaster und gießt das Fundament. Er benutzt Breitäxte und Tischsägen, um Stämme zu bearbeiten, bis sie Kanthölzer sind. Er stemmt Kerben. Er schneidet Überlappungsverbindungen. Er benutzt Schneckenbohrer, um Löcher zu bohren.
    Für ihn ist jeder Tag ein mechanischer Sturm aus kreischenden Kettensägen und raspelndem Schleifpapier und krachenden Hämmern. Sägemehl hängt in schweren Wolken. Als Justin ein kleiner Junge war, nahm sein Vater ihn manchmal mit. Justin brachte dann den Tag damit zu, sinnlos Nägel in Bretter zu schlagen, durch Türen zu rennen, aufs Dach zu steigen und sich vorzustellen, das Blockhaus gehöre ihm. Er erinnert sich, dass alles roch wie die Erinnerung an eine Sägemühle. Er erinnert sich, wie er seinem Vater bei der Arbeit zusah, mit nacktem Oberkörper, von dem manchmal Dampf in die kalte Bergluft stieg.
    Sein Vater verlegt Böden. Er stapelt Balken zu Wänden auf, schneidet Schwalbenschwanzverbindungen für die Ecken. Er sägt die Dachsparren, sägt die Deckenträger. Er sägt die Fenster- und Türlöcher heraus, und sein Schmied gräbt ein Loch, füllt es mit Kiefernholz und lässt es herunterbrennen zu einem orangenen Bett aus Kohlen und stellt dann seine Esse auf, um Türangeln, Knäufe und Treppengeländer zu schmieden. Dann kommt das Verkleiden, das Verschließen der Ritzen, das

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