Wölfe der Nacht
sie sollen dich anrufen. Ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Justin fällt es schwer, ihn anzusehen. Seine Augen sind von dunklen Schatten umrandet. Seine Nase wirkt zu spitz. Seine Lippen zittern ein wenig, wenn er spricht, falls er weinen möchte, lässt er es nicht zu. Er wendet den Kopf ab und schaut zum Fenster hinaus, hinter dem gerade die Sonne untergeht. Justin sieht, wie in dem verlöschenden Licht seine Gesichtsfarbe von rot zu blass wechselt, als hätte er sich, nachdem er vor Verlegenheit rot geworden war, nun wieder gefasst.
Wenige Minuten später betritt ein Arzt das Zimmer. Er hat eine hohe Stirn und silbrige Haare und trägt einen weißen Arztmantel mit einer ganzen Sammlung von Stiften in der Brusttasche. Jetzt zieht er einen heraus und hält ihn wie eine Waffe. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich fühle mich großartig.« Paul klatscht in die Hände. »Bereit zum Heimgehen.«
»Ich fürchte, das wird in nächster Zeit nicht passieren.«
»Wer sagt das?«
»Ich. Sie werden die nächsten Tage bei uns verbringen.«
»Aber ich muss wieder an die Arbeit!«
»Sie müssen sich eine Auszeit nehmen.«
»Still!« Er sagt das wie einen Fluch. »Das werde ich auf keinen Fall tun.«
»Werden Sie.«
Ein Konflikt huscht dunkel über seine Gesichtszüge und er seufzt schwer.
Eine Stunde später kommt Justins Mutter, stöhnt schon an der Tür auf und wirft seinen Infusionsgalgen um, als sie zu seinem Bett stürzt. »Es geht mir gut«, sagt er. »Der Arzt sagt, es geht mir gut. Er sagt, ich bin in null Komma nichts wieder draußen.«
Justin sagt: »Hoffen wir’s wenigstens.«
Sein Vater hebt die Hand, Zeige- und Mittelfinger überkreuzt, und dann wandert die Hand weiter zu seiner Stirn und berührt den Verband. Die nächsten drei Wochen wird er dort noch blaue Flecken haben, und irgendwann werden die zu einer roten Runzel schrumpfen, die er oft mit dem Finger berührt und sagt, dass er dort seinen Herzschlag spüren kann.
BRIAN
Brian durchstreift diesen Flussabschnitt, um sich die Pfade einzuprägen, auf denen die Biber zwischen ihrem Bau und ihren Nahrungsverstecken wechseln. Er stellt die Falle an einer schwarzen glasigen Stelle auf, wo das Wasser tief ist und das Ufer glitschig von ihren Bäuchen und ihren darübergleitenden Schwänzen und die Tiere kleine Schlammhäufchen über ihrem Bibergeil aufgetürmt haben. Die Falle – eine Außenfeder-Springfalle – sieht aus wie eine metallische Mottenart. Er ködert sie mit Weidenzweigen behängt mit Moschussäckchen, die nach essigsauren, ungewaschenen Genitalien riechen. Er platziert die Falle dreißig Zentimeter unter der Wasseroberfläche und befestigt eine Tauchschlinge daran.
Normalerweise ist er geduldig. Er weiß, er sollte warten bis zum späten Winter, dem frühen Frühling. Er weiß, dass ihre Felle dann am glänzendsten und dichtesten sind. Aber er hat ein Projekt – ein Näh-Projekt –, an dem er gerade arbeitet und das nicht warten kann.
Heute Morgen bläst stetig ein kühler Wind und schüttelt die Kiefern und reißt die goldenen Blätter von den Birken, die sich auf der Wasseroberfläche verteilen und auf ihrem Weg flussabwärts wie Münzen funkeln. Der Himmel ist gespenstisch grau und schwer von Wolken, die Regen tragen. Er steht am Ufer, seine Stiefel sinken langsam in den Schlamm, und er sieht den gefangenen Biber, einen schwarzen Umriss, etwa von der Größe und der Form eines übergroßen Footballs. Ein Fünfundzwanzigpfünder, schätzt er; den Hinterlauf von der Falle gehalten, treibt er in der Strömung. Das Wasser wölbt sich darüber, so dass eine kleine Stromschnelle entsteht.
Sein Vater brachte ihm das Fallenstellen bei und wie man das Tier häutet und ausweidet, wie man sein Fleisch brät und den Schwanz kocht, wie man das Fell bearbeitet und bei einer Auktion verkauft. Jeden Winter standen sie zusammen vor Sonnenaufgang auf, zogen ihre isolierten Overalls an, stapften durch den Schnee und hackten das Eis auf, um ihre Fallen zu kontrollieren oder neue aufzustellen. Er erinnert sich noch an die Dampfsäulen, die aus den Löchern im Fluss aufstiegen, den heißen Kaffee aus einer Thermosflasche, an das Blut, das im Schnee so grell leuchtete.
In seiner Tasche meldet sich sein Handy, der Klingelton ist das Lied einer Meise. Er holt es heraus, schaut auf den Monitor und sieht eine Nummer, die er nicht kennt. Er hat heute Morgen noch mit niemandem gesprochen, und der Kaffee, den er zuvor getrunken hat, ist noch nicht
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