Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
Vom Netzwerk:
heraus, was fast komisch wirkt, wäre da nicht das heraustropfende Blut. Boo kommt herbei und schnuppert gierig an dem offenen Maul und leckt in einer Art Kuss an dem Blut, bis Justins Vater ihm mit dem Stiefel einen Stups gibt und der Hund sich trollt und sich mit den Knochen beschäftigt.
    Mit dem Finger führt Justins Vater den Weg der Kugel nach, die in einer roten Rosette in die Schulter eindrang, sich durch Knochen und Muskel einen Weg durch das ganze Tier bahnte und am gegenüberliegenden hinteren Schenkel wieder austrat. »Kein schlechter Schuss.«
    Justin schaut Graham an und erwartet, eine stolz geschwe llte Brust z u sehen. Doch sein Kopf ist gesenkt, die Hände sind vor dem Bauch gefaltet. Der Hirsch ist nun nichts mehr, was man distanziert durch ein Visier sieht, wie ein computergeneriertes Bild in einem Videospiel. Der Hirsch liegt hier vor ihnen und sie können das kupferige Blut riechen, das sich mit dem feuchten Heugeruch seines Fells vermischt. Mit traurigen Augen und hängenden Schultern sagt Graham: »Dad?«
    »Ja.«
    »Darf ich dich was Komisches fragen.«
    »Ja.«
    Die Wörter kommen nur langsam. »Weiß dieser Hirsch, dass er ein Hirsch ist? Oder ist er nur so wie ein Baum? Also, denkt er überhaupt über irgendwas nach? Als er angeschossen wurde –«
    »Du hast ihn angeschossen«, sagt Justin, oder der Englischlehrer in ihm, der will, dass sein Sohn sich seiner Sprache bemächtigt und anerkennt, was er getan hat. Nicht, um ihn zu beschämen, sondern um ihn zu erziehen.
    Graham nickt und nagt einen getrockneten Hautstreifen von seiner Unterlippe. »Als ich ihn angeschossen habe, hat er da gedacht: Ich sterbe jetzt?«
    Wie fühlt es sich an, gejagt zu werden – das will er wissen –, ein Hirsch zu sein, der in die Mündung eines Gewehrs starrt, zu spüren, wie die Kugel in die Haut eindringt und sich im Inneren aufbläht, die Eingeweide aufreißt und Knochen durchdringt? Es ist eine wichtige Frage.
    Sein Großvater antwortet. »Graham. Hör mir zu. Der Hirsch denkt Folgendes: Ich bin hungrig. Ich bin müde. Und jetzt werde ich scheißen. Das denkt er. Aber er denkt nicht, wie du und ich denken. Er ist nur Fleisch und Knochen.« Und dann seufzt er, streicht sich nachdenklich den Bart und überrascht Justin, indem er mit der Hand eine Bewegung wie ein Blatt im Wind macht. »Komm mal hier rüber.«
    Graham geht zu ihm, und sein Großvater nimmt ihn unter den ausgestreckten Arm. »Ich will, dass du was für mich tust. Ich will, dass du dich hinkniest. Und dann will ich, dass du die Hände faltest. Jetzt sag ein Gebet. Sei dankbar.«
    Dankbar für das Opfer des Hirsches oder dankbar für seinen gut gezielten Schuss oder dankbar für den Kick des Jagens – Justin weiß es nicht so recht – , aber sie senken den Kopf und schließen die Augen und beten ein altes Familiengebet – »Der Herr war gut zu mir, und deshalb danke ich dem Herrn« –, während das Blut in die Erde sickert und Boo an einem Oberschenkelknochen nagt und die über ihnen wartenden Vögel leise schnattern.
    Danach scheint es Graham ein bisschen besser zu gehen. Er stranguliert den Lauf seines Gewehrs nicht mehr, als wollte er Öl daraus pressen, sondern hängt es sich über die Schulter und schaut sich den Hirsch genauer an, streicht mit der Handfläche über das Fell und betastet das Einschussloch mit dem Daumen. Justin denkt an sein Gebet, das jetzt mit Grahams vereint ist, und fragt sich, ob sie funktionieren, ob sie helfen, auch wenn nur die Reflektion, die beim Beten entsteht, heilen kann, so wie es auch beim Geschichtenerzählen ist.
    Sie schießen Fotos. Justins Vater lässt sich von Graham die Kamera geben und sagt ihm, er solle sich hinter den Hirsch stellen und den Fuß auf seine Schulter stützen.
    »Genau. Das ist ein klasse Motiv. Du im Schatten, der Hirsch in der Sonne. Tolles Bild. Ehrlich.« Er senkt kurz die Kamera und schaut Graham an wie ein Regisseur. »Tust du mir einen Gefallen? Nimm das Gewehr und stemm es dir in die Hüfte, so dass es ungefähr im 45-Grad-Winkel nach oben ragt.«
    Graham tut es, und sein Großvater sagt: »Jetzt mach ein grimmiges Gesicht.«
    Graham starrt ihn verständnislos an. Und dann verändert sich sein Gesicht langsam – die Augen werden schmäler, die Oberlippe hebt sich leicht –, für einen Augenblick wird der Junge zu Clint Eastwood.
    »Perfekt.« Sein Großvater hebt die Hand und formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. Der Blitz blinkt dreimal, bevor die Luft sich mit

Weitere Kostenlose Bücher