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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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Licht füllt und Grahams Augen für Sekundenbruchteile rot glimmen, wie bei einem Tier, das auf nächtlicher Straße von Scheinwerfern erfasst wird.
    Sein Großvater mustert die Kamera, dreht sie hin und her und bringt sie dann zu Graham. »Jetzt drück auf den Knopf, der es mich sehen lässt.«
    Graham hängt sich das Gewehr wieder über die Schulter und nimmt die Kamera und drückt auf Knöpfe, bis der Monitor das Foto zeigt.
    »Na, das ist doch ein Foto.« Sein Großvater drückt ihm die Schultern. »Wenn du solche Fotos schießt, schaffst du es problemlos zu Field & Stream.«
    »National Geographic«, sagt Graham.
    »National Geographic, alle Achtung.«
    Einen Augenblick lang schauen sie einander so in die Augen, dass Justin sich ausgeschlossen fühlt. Dann kommt von oben ein lautes Flattern und Krächzen, als die Vögel plötzlich auffliegen. Sie schauen gerade rechtzeitig hoch, um ihre sich zerstreuende Schwärze zu sehen und dann einen dunklen, massigen Kopf, der sich über den Rand beugt und sich sofort wieder zurückzieht. Justin denkt an die Krallenspuren und an die scheinbar frischen Felszeichnungen und spürt, wie sich seine Haut zusammenzieht. Staub und Kiesel rieseln zischend und klickend von oben herunter, und dann wird alles wieder still.
    Justins Vater starrt lange Zeit in den Himmel, als würde er auf etwas warten. Als es nicht kommt, zieht er sein Messer vom Gürtel – die Klinge ist schartig und der Griff fleckig von so vielen Jahren des Bluts – und sagt: »Zeit, diesen Hirsch aufzubrechen und zu sehen, woraus er besteht.«
    Sein Großvater zeigt ihm das Zerlegen. Zuerst rammt er das Messer in den Hirsch. Der feuchte Übergriff des Eindringens von Metall in Fleisch hat Justin immer zusammenzucken lassen, aber Graham beugt sich näher, um zuzusehen, wie der Bauch sich öffnet und sein Großvater in den Schnitt greift, um den Eingeweidesack herauszureißen, ihn einen Augenblick in die Höhe zu halten wie einen frisch entbundenen Wechselbalg, grau, drall und oval, und ihn dann beiseitezulegen. Graham stößt ihn mit einem Knochen an, er platzt auf und erfüllt die Luft mit einem ekligen Geruch nach feuchten Federn und verdorbener Bratensauce.
    Justin beschäftigt sich damit, ein Stück des Knochenfelds freizuräumen, so dass der schmale Bach zutage tritt und sie das Blut vom Fleisch und die Eingeweidereste von ihren Händen waschen können. Er trägt den Kühlrucksack, und den nimmt er nun ab und holt einen Karton mit Ziploc-Gefriertüten heraus. In zwei davon steckt er die Leber und das Herz, die noch warm sind, obwohl Graham sie in Quellwasser getaucht hat.
    Später wird Grahams Vater sich den Hirsch auf die Schultern heben und ihn mit bluttriefendem Rücken aus der schmalen Schlucht heraus und in den Hauptcanyon tragen, wo sie sich einen Häutebaum suchen werden. Er wird eine Schlinge um s Geweih legen und den Kadaver in die Höhe hieven und Graham die weißliche Membran zeigen, die Fell mit Fleisch verbindet, und dann das Messer in einer Sägebewegung führen, bis sich so viel von der Decke abgetrennt hat, dass er sie packen und daran reißen kann, damit sie sich löst mit dem Geräusch eines Pflasters, das man von einer feuchten Wunde zieht. Und der Hirsch wird nackt dahängen, die Farbe seiner Muskeln irgendwo zwischen Rot und Violett, der Rumpf gepolstert mit weißem Fett.
    Aber das kommt erst später.
    Im Augenblick richtet er sich mit bluttriefenden Händen auf und stellt sich vor die Wand der Grotte. Er scheint die Felskunst zu betrachten. Dann hebt er die Hand an den Basalt und fügt seine eigene Chiffre hinzu, wobei er die Hand hin und wieder in den Hirsch taucht, um sich frische Farbe zu holen. Nach einer Weile macht Graham es ihm nach. Und schließlich auch Justin – zu dritt arbeiten sie nun an dem Fels. Sie fangen an mit weichen, zögerlichen Strichen, die immer kräftiger werden, und bald bewegen sich ihre Hände so schnell, wie die Muskeln es gestatten, sie malen blutige Wirbel und blutige Kleckse und große, blutige Augen, die sich zu einer Art Wandgemälde zusammenfügen.
    Justin überkommt eine tolldreiste Idee. Die Dunkelheit des Walds und der Kick der Jagd und die Wildheit seines Vaters haben ein schützendes Siegel in ihm aufgebrochen; er hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Einen Augenblick lang, nur einen Augenblick vergisst er seine Hypothekenzahlungen, seinen verwahrlosten Rasen, seinen Subaru und das knirschende Geräusch, das er beim Linksabbiegen macht, seinen

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