Woelfin des Lichts
am Ufer entlang. Die einzige Möglichkeit das Wasser zu erreichen war eine Lücke zwischen dem dichtwachsenden Schilfgras, die zu einem aus alten Bohlen zusammengesetzten Holzsteg führte, der fast bis in die Mitte des Sees reichte. Der Abstieg wäre für einen normalen Menschen nicht ganz ungefährlich gewesen, doch Sara besaß eine ausgezeichnete Körperbeherrschung und einen überragenden Gleichgewichtssinn. Unter ihren Füßen rutschten lose Steine und sandige Erde ab, sodass sie das Gefühl hatte sich nicht mehr auf festen Boden zu bewegen, sondern vielmehr auf einer Sanddüne zu laufen, die jeden Moment unter ihr wegrutschen konnte. Die letzten Meter sprang sie, mehrere weite Schritte nehmend auf die erste Holzbohle, die zum Glück unter ihrem Gewicht nicht einbrach. Glücklich, diesen wundervollen Ort gefunden zu haben, zog Sara ihre Ballerinas aus und ging barfuß bis zum Ende des Steges. Sie setzte sich auf die Kante und ließ ihre Beine im kühlen Wasser baumeln. Verträumt schaute sie über die glitzernde Wasseroberfläche hinweg und lächelte, als sie eine Entenmutter mit ihren schnatternden Küken vorbeischwimmen sah. Als es ihr zu heiß wurde, schlüpfte sie mit einer geschmeidigen Bewegung aus ihrem kurzen Sommerkleid. Darunter trug sie einen fliederfarbenen Bikini, der mehr offenbarte als verbarg, doch da sich hier niemand außer ihr aufhielt, war das kein Problem. Langsam ließ sie sich vom Rand des Stegs ins kühle Wasser gleiten und atmete mehrmals tief durch, stieß sich vom Holzpfosten ab, der bis zum Grund des Sees reichte und schwamm in den See hinaus.
Den ganzen Nachmittag verbrachte sie am Wasser, zog ihre Runden oder lag entspannt auf den warmen Bohlen und genoss die Stille, die einzig von vielfältigem Vogelgezwitscher und dem gelegentlichen Qua ken der Frösche, die sie hin und wieder störte, begleitet wurde.
Die Stunden vergingen wie im Flug und die Abenddämmerung brach unmerklich und früher als erwartet herein. Spontan beschloss sie die Nacht am See zu verbringen. Sie streckte sich auf den Bohle n aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete, wie sich der Himmel langsam rötlich verfärbte und sich zu verdunkeln begann. In wenigen Stunden würde der Mond aufgehen. Doch Sara hatte weder Angst vor der Dunkelheit noch vor dem langen Rückweg, sie würde noch vor dem Morgengrauen als Wolf nach Hause laufen und ihre Sachen später abholen.
Mit sich und der Welt im Einklang setzte sie sich auf, als sie ein leises, störendes Geräusch hinter sich wahrnahm.
Verblüfft beobachtete sie wie ihr Nachbar den Steg betrat und wunderte sich, was er um diese Zeit an diesem abgelegenen Ort zu suchen hatte. Sein Gesicht lag im Schatten, sodass sie nicht erkennen konnte, in welcher Stimmung er sich gerade befand. So kurz vor seiner Verwandlung konnte ein Wolfswesen gefährlich sein, doch seine ruhigen, geschmeidigen Bewegungen wiesen keinerlei Anzeichen von Aggression oder Unruhe auf. Von dem langen Sonnenbad träge geworden, beobachtete sie sein Näherkommen und ahnte nicht, welchen Anblick sie bot und welche Mühe es Jack kostete, gelassen zu wirken.
Er hatte bereits seit längerem nach ihr Ausschau gehalten und atmete erleichtert auf, als er sie auf dem Steg entdeckte. Eigentlich wollte er nur kurz auf ein Bier bei Michael vorbeischauen, und hatte zufällig durch das Wohnzimmerfenster beobachten können, wie Sara den Weg zu den Wiesen einschlug und sich immer weiter von Roseend entfernte. Spontan änderte er seine Meinung und blieb bis zum Abend. Sein Nachbar schien sich über den unerwarteten Besuch durchaus zu freuen und erzählte stundenlang von seiner Idee, über die Bewohner und Roseend eine Autobiographie zu schreiben. Jack hatte amüsiert eine Augenbraue hochgezogen und ihm zugeprostet: „Da sich ja unglaublich viel in Roseend ereignet und wir alle von einem Abenteuer ins nächste stolpern, wird es bestimmt Jahre dauern unsere Geschichte zu Papier zu bringen. - Auf dass du eisernes Durchhaltevermögen beweist.“
Michael hatte sich ohne sichtbaren Erfolg eine zottelige, karottenrote Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet und Jack verschwörerisch zu gezwinkert: „Irgendetwas sagt mir, dass mit Saras Erscheinen mehr Leben in die Bude kommmt...“
Er wurde von Jack, der genervt die Augen verdrehte, unterbrochen: „Jetzt fang du bitte nicht auch noch an. Es reicht schon, dass Mina we gen Sara aus dem Häuschen ist. Ich gebe ja zu, dass sie recht attraktiv ist, sozusagen
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