Woge der Begierde
»Weißt du, ich denke, du hast recht, wenn du meinst, hier sei einmal eine Kammer gewesen. Die Steine sind anders. Und sogar das Mauerwerk unterscheidet sich von dem übrigen.«
Julian, der offenbar ebenfalls die Kälte als gegeben hinnahm, hielt seine Kerze höher, damit sie besser sehen konnten. Mit einem Nicken erklärte er: »Es scheint zu einem späteren Zeitpunkt erbaut zu sein. Es gab ja immer Umbauten in diesen alten Gemäuern. Das hier kann die Waffenkammer gewesen sein oder ein Wachzimmer. Es ist möglich, dass in früheren Zeiten, als das Gebäude noch kleiner war, es sogar die Schlafkammer des Burgherrn gewesen ist. Wer weiß?«
Seine blauen Augen glitzerten vor unterdrückter Erregung, während Adrian erklärte: »Beim Jupiter! Ich wünschte, wir hätten einen Vorschlaghammer dabei. Wer weiß, was wir hinter dieser Wand am Ende finden werden.« Ein beinahe ehrfürchtiger Ton schlich sich in seine Stimme. »Es könnte eine geheime Schatzkammer sein …«
Charles kam zu dem Schluss, dass ihm nur übrig blieb, wie die anderen so zu tun, als störe ihn die Kälte nicht weiter; daher verbarg er sein Unbehagen und klopfte Adrian auf die Schulter. Er setzte ein Lächeln auf und sagte: »Oder einfach ein leerer Raum, in dem höchstens Mäusedreck liegt.«
Adrian grinste reuig. »Da hast du vermutlich recht, aber ich möchte wissen, was auf der anderen Seite liegt.«
»Es ist dein Haus«, bemerkte Charles lapidar. »Du kannst damit machen, was du willst.«
»Wenn Daphne mich lässt.«
»Ich glaube, deine Schwester wird ebenso neugierig sein wie du.«
Adrians Miene hellte sich auf. »Ja. Und da sie bereits eine Wand in meinem Haus zerstört hat, was macht da schon eine mehr?«
Die Flammen zuckten wild, als ein weiterer eisiger Luftzug um sie herumfuhr. Erschreckt schaute Julian über seine Schulter und fragte, ohne jemand direkt anzusprechen: »Was, zur Hölle, war das?«
»Vermutlich Zugluft von unten«, sagte Marcus beiläufig und wandte sich wieder der Mauer zu.
Charles erwog kurz, ihn eines Besseren zu belehren, aber entschied dann, dass eine Erklärung - besonders die, die er ihm geben würde - höchstens dazu führen würde, ihn nach Bedlam zu bringen, daher hielt er lieber den Mund. Furcht wallte in ihm auf, ein Gefühl drohender Gefahr, das sich in ihm breitmachte. Die Mauer musste näher untersucht werden - das leugnete er nicht, und es lag vermutlich tatsächlich ein Zimmer dahinter. Er wünschte nur, er hätte Goodsons Kruzifix in seiner Westentasche stecken. Sein Mund wurde schmal. Da er das nicht hatte, blieb ihm nur übrig, alle so rasch wie möglich von hier wegzubringen.
Deshalb sagte er ohne lange Vorrede: »Ich denke, wir haben für heute Nacht genug gesehen. Sicher fragen sich die Damen schon, was wir hier so lange treiben.«
»Aber wir sind noch gar nicht ganz unten angekommen!«, widersprach Adrian.
Julian sah Charles neugierig an. »Ich bin sicher, dass ein paar Minuten keinen großen Unterschied machen werden.«
»Und ich würde mir diese Mauer gerne genauer ansehen, ehe wir weitergehen«, sagte Marcus.
Geschlagen zuckte Charles die Achseln. Vielleicht übertrieb er. Vielleicht war die Kälte wirklich ganz normal. Vielleicht bildete er sich Sachen ein … oder auch nicht.
Die Mauer faszinierte Marcus und Julian, und Adrian stand dicht hinter ihnen, betastete und prüfte die Steine. Charles musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten, und schaute sich auf dem Treppenabsatz um, sah aber zu seiner Erleichterung keine Geistererscheinung. Noch nicht.
»Ich glaube, dass da etwas hinter diesem Teil der Wand liegt«, sagte Julian schließlich und trat einen Schritt zurück. Er lächelte Adrian an. »Ob es eine Schatzkammer ist oder nicht, bleibt abzuwarten.«
»Das werden wir morgen klären«, schwor Adrian aufgeregt. »Es ist mein Haus, und ich will wissen, was hinter dieser Mauer ist. Gleich als Erstes morgen früh werden wir zurückkommen, ein paar von den Schießscharten öffnen, damit wir mehr Licht haben, und dann brechen wir durch die Wand und sehen, was sich dahinter befindet.«
Ohne Vorwarnung traf sie eine Böe eisiger Luft mit voller Wucht, und die Kerzen gingen aus. Charles spürte eine bösartige Macht in der Schwärze, kurz bevor er gegen die
Wand geschleudert wurde. In der Finsternis schrie Adrian auf, dann hörte man das entsetzliche Geräusch eines Körpers, der die Stufen herunterfiel.
Fluchend und mit bebenden Fingern zündete Charles die
Weitere Kostenlose Bücher