Woge der Begierde
unschöne Tatsachen zu verwässern oder zu verschleiern, damit sie kein schlechtes Licht auf die Familie warfen. Sie seufzte. Mrs. Darbys Geschichten verrieten vielleicht nicht viel Nützliches, aber im Augenblick war Goodsons Schwester ihre beste Informationsquelle.
Sich zu einem Lächeln zwingend bat Daphne: »Könnten Sie uns bitte noch eine weitere Geschichte erzählen?«
Während sie Tee getrunken und dann Mrs. Darby zugehört hatten, war die Zeit jedoch wie im Flug vergangen, und die Dämmerung brach an. Als das Tageslicht verging, erreichte das Unwetter sie, angekündigt durch einen gelegentlichen Donner, das tiefe Stöhnen des Windes und den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Mrs. Darby erklärte also, nachdem sie auf die Geräusche des Wetters draußen gelauscht hatte, voller Bedauern: »Eigentlich hatte ich vorgehabt, Sie noch mit einer weiteren Geschichte zu unterhalten, einer Gespenstergeschichte sogar, aber ich fürchte, das schlechter werdende Wetter macht das unmöglich. Vielleicht ein andermal?«
»Oh, nein«, protestierte Adrian. »Wir können Sie unmöglich in einem so scheußlichen Wetter wie diesem den
Heimweg antreten lassen. Ich bestehe darauf, dass Sie heute hier als unser Gast bleiben. Goodson und Mrs. Hutton können Sie sicher unterbringen.«
Daphnes Pulsschlag hatte sich bei der Erwähnung des Wortes Gespenst beschleunigt, und sie hätte Adrian für seine Einladung küssen mögen. Die Gespenstergeschichte konnte sich sehr wohl als völliger Blödsinn entpuppen, aber Daphne wartete verzweifelt darauf, sie zu hören, und als Anne zögerte, beugte sie sich vor und berührte sie an der Hand. »Bitte, bleiben Sie. Wie mein Bruder bereits sagte, kann Goodson sich um alles kümmern. Es wird keine Belastung in irgendeiner Weise sein.«
»Ja! Sie müssen bleiben«, fiel April ein. »Es wäre so herrlich!« Ein besonders lauter Donner ließ das Haus erbeben, sodass die Scheiben klirrten, worauf April zusammenzuckte. Mit lachendem Gesicht sagte sie zu Mrs. Darby: »Sehen Sie, es wird eine herrliche Nacht für Gespenstergeschichten werden. Ach bitte, sagen Sie, dass Sie bleiben!«
Charles sah die Veränderung in Daphnes Miene, als Mrs. Darby das Wort Gespenst fallen ließ. Seine Verlobte wollte eindeutig, dass Mrs. Darby über Nacht blieb. Aber warum? Bloß aus Höflichkeit? Ein Hang zum Makaberen? Das bezweifelte er. Um zu helfen, erklärte er: »Es steht außer Frage, Mrs. Darby, dass wir Sie heute Abend hier weggehen lassen. Das Wetter ist grässlich; Sie müssen bleiben.« Er lächelte ihr charmant zu. »Außerdem ist es, wie die junge Dame schon sagte, eine wunderbare Nacht für eine Spukgeschichte.«
Mrs. Darby streckte die Waffen. Daphne läutete nach Goodson und Mrs. Hutton, die von den veränderten Umständen in Kenntnis gesetzt wurden. Während Goodsons Züge sich bei der Nachricht versteinerten, war in Mrs. Huttons
leicht zu lesen, da sich bei der Nachricht ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Goodson wird einen weiteren Platz decken lassen«, verkündete Mrs. Hutton. »Und ich sage der Köchin, dass heute Abend ein weiterer Gast hier essen wird.«
»Es ist doch nicht nötig, dass ich das Essen mit Ihrer Familie einnehme«, erhob Mrs. Darby ruhig Einspruch und schaute Adrian an. »Ich freue mich über Ihre Freundlichkeit, Sir Adrian, aber ich möchte mich nicht über meine Stellung erheben. Ich denke, es wäre passender und mir auch lieber, wenn ich in der Küche essen könnte.«
»Und in Anbetracht der Stunde«, sagte Daphne, die keine Unbehaglichkeit aufkommen lassen wollte, »schlage ich vor, dass wir Mrs. Hutton erlauben, Mrs. Darby ihr Zimmer zu zeigen. Später kann sie dann wieder zu uns stoßen.« Sie wandte sich direkt an Mrs. Darby. »Das gibt Ihnen auch Zeit, sich … äh … einzugewöhnen, ehe Sie uns mit einer weiteren Geschichte unterhalten.«
»Eingewöhnen?«, fragte Charles, nachdem sich die Türen hinter den beiden Bediensteten und Mrs. Darby geschlossen hatten. »Meinen Sie nicht eher, sich um die verletzten Gefühle ihres Bruders zu kümmern?«
Daphne lächelte. »Das mehr als alles andere. Armer Goodson. Er befindet sich wirklich in einem hässlichen Dilemma. Wir werden sehr nett zu ihm sein müssen, wenn wir irgendwann wieder gut bei ihm angeschrieben sein möchten.«
Nachdem sie ihr Abendessen zu sich genommen hatten, versammelten sie sich wieder im Blauen Salon. Der Kronleuchter war angezündet worden, um die Düsterkeit
Weitere Kostenlose Bücher