Wolf inside (German Edition)
Bauch wird, je mehr ich die Bewegungen spüre, desto mehr wünsche ich mir dieses Kind. Ich möchte es im Arm halten, es ansehen. Ob es wohl ein Mädchen wird? Es muss ein Mädchen werden! Ich möchte das Vermächtnis nicht weiter tragen, möchte nicht daran verzweifeln wie Mutter. Nun kann ich sie verstehen.
Raimondo macht mir immer mehr Angst. Wenn er bei mir ist, bekomme ich Angstzustände und Panikattacken, der Arzt hat ihm strikt verboten, sich in meiner Gegenwart aufzuhalten. Gott sei Dank!
Nanu? Das war aber eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad! Was für ein Vermächtnis meinte sie wohl? Eines, das nur Jungen trifft? Ein Gendefekt? Davon hatte ich schon gelesen. Ich blätterte wieder weiter. Gesunde Ernährung, Bewegungen des Kindes, bis ins Kleinste notiert, der Wunsch, das Kind zu behalten wurde immer größer. Und hier:
17. September
Ich habe Betty bestochen. Ich werde von hier fortgehen. Sie wird mir helfen. So Gott will, werde ich heute Abend von hier fliehen.
Huch. Das war alles? Ich blätterte die Seite zurück, fehlte etwas? Nein, alles da. Komisch. Hier endete das Tagebuch. Ich blätterte zum Ende, es waren noch rund fünfzehn Seiten frei. Was war geschehen? Die Flucht war ja anscheinend geglückt. Wer hatte den Jungen aufgezogen? Raimondo? Das glaubte ich nicht. Aber sprach er nicht von seinem Vater? Hm. Sehr seltsam.
Mal sehen, was Jerry noch darüber wusste. Mir tat der Kleine leid. Zu lesen, dass seine Mutter ihn eigentlich ja gar nicht haben wollte, musste echt schlimm sein.
Ich legte das Büchlein zur Seite. Und grübelte. Unter einem der Kissen hatte sich doch ein Notizblock verkrümelt, da war er ja. Stift? Unter dem Sofa, wie immer.
Also. Was hatte ich? Ich schrieb: Raimondo. In was für einer Branche war so einer tätig? Geld wie Heu, eine Ehefrau und eine junge Geliebte. Unternehmer? Banker? Großindustrieller? Wohl kaum. Boss eines netten kleinen Gangsterimperiums? Schon eher. Ich notierte mir, dass ich Dad danach fragen musste. Er kannte die Gangster und wusste auf den Straßen besser Bescheid, als ich in meiner Hosentasche.
5
Es nieselte. Alessandro zog die Schultern hoch, und versuchte, dicht an der Mauer zu bleiben. Nach dem ungebetenen Besuch gestern Abend hatte er nur noch einen Gedanken gehabt. Bloß weg! Und dabei glatt vergessen, seine Jacke mitzunehmen. Nun fröstelte er. Kopfschmerzen kündigten sich an.
Nach ein paar Metern blieb er stehen. Vulto war in der Gasse zwischen Shanes Wohnblock und dem Nebenhaus verschwunden. Er sah sich um. Auf der kleinen Straße vor dem Haus war nicht viel los. Noch war kein Auto vorbeigefahren, aber gerade rumpelte ein Müllwagen um die Ecke.
Tief sog er die Luft ein, und verzog angewidert das Gesicht. Frische Luft war was anderes. Es roch nach Abgasen, irgendwo musste ein Imbiss oder Ähnliches sein. Er roch noch einmal. Ein Inder. Und ein Italiener. Aus der Gasse wehte der Gestank von gammeligem Müll, Urin und ungewaschenen Körpern heraus. Zwischen den Containern und Pappkartons mussten mindestens drei Obdachlose hausen. Alessandro versuchte, nicht durch die Nase zu atmen. Seine Kopfschmerzen verstärkten sich und er schloss kurz die Augen. Wie hielt Vulto das bloß aus?
Er versuchte, an etwas anderes zu denken, seine Gedanken schweiften ab.
Er vermisste sein Zuhause. Und Jack. Er war zwar nicht sein biologischer Vater, doch das hatte er ihn niemals spüren lassen. Auch Carol, seine Stiefmutter, vermisste er, ein bisschen zumindest. Jack hatte sie geheiratet, als er zwei oder drei Jahre alt war. Wen er nicht vermisste, war Charles, seinen kleinen Bruder. Er war jetzt acht und eine echte Nervensäge. Und Carols Sonnenschein.
In dem winzigen Städtchen, in dem er aufwuchs, war es zwar manchmal vor Langeweile nicht zum Aushalten gewesen, und die Bewohner hatten nichts anderes zu tun als einen Tag und Nacht zu beobachten. Aber es herrschte wenigstens Ruhe.
Hier, hier waren ja die ganze Zeit über Geräusche zu hören. Jede Minute, ohne Pause. Er lauschte und verzog gequält das Gesicht.
Aus irgendeinem Hauseingang quoll lauter Hip-Hop, der Krach des langsam heranrollenden Müllwagens war fast unerträglich. Die Hydraulik zischte, die Container rappelten, der Motor, der alle paar Meter im Leerlauf tuckerte, machte ihn irre. Dazu kam der Verkehrslärm einer Hauptstraße, ganz in der Nähe. Dieser ständige Geräuschpegel ließ seinen Kopf dröhnen, und das plötzliche Jaulen einer Polizeisirene gleich um die Ecke gab ihm
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