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Wolfgang Hohlbein -

Wolfgang Hohlbein -

Titel: Wolfgang Hohlbein - Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Inquisito
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war so verwirrt wie niemals zuvor in seinem
    Leben. Es war, als stünde er auf dünnem Eis und hörte es brechen, nur daß er nicht sicher war, was sich darunter befand: eiskaltes Wasser oder der flammende Abgrund der Hölle. Zitternd hob er die Hand und betastete seine Lippen.
    Sie schienen zu brennen, und er schmeckte noch immer die verlockende Süße des Kusses. Warum hatte er das getan? Er hatte sie nicht so geküßt, wie ein Priester eine Kranke, wie ein Vater seine Tochter. Er zitterte. Alles drehte sich um ihn, und sein Herz pochte so laut, daß er meinte, man müsse es im ganzen Haus hören. Was er verspürt hatte in diesem Moment, das war Lust gewesen, nichts anderes als sündige fleischliche Lust. Wäre Bresser nicht in diesem Moment gekommen ... Er weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken
    Tobias eilte in die Stube, überzeugte sich davon, daß er allein war, und nahm das schlichte Holzkreuz in beide Hände, das er um den Hals trug. Er kniete unter dem Fenster nieder, schloß die Augen und begann zu beten.
    Seine Lippen bewegten sich lautlos. Er flehte Gott um Kraft an, Kraft, diese furchtbare Prüfung zu bestehen, der Versuchung zu widersagen und sich den schlechten Gedanken, die irgendwo in ihm heranwuchsen, zu stellen. Er 116
    mußte Klarheit gewinnen: Klarheit über das, was er selbst empfand, und über die Dinge, die geschehen mußten. Er war nicht mehr der junge Tobias, sondern der Inquisitor, der seines Amtes walten mußte, auch wenn es ihm mehr als
    schwerfiel.
    Er saß lange Zeit so da und betete, und seine Gedanken drehten sich wirr im Kreis, bis schließlich die Tür aufging und er Schritte hörte und sich erhob.
    Es war Maria. Sie trug eine brennende Kerze in der Hand und fuhr überrascht zusammen, als sie ihn sah; offensichtlich hatte sie gar nicht gewußt, daß er hier war, sondern war nur hereingekommen, um das Licht anzuzünden. Sie wollte wieder gehen, aber Tobias hielt sie zurück.
    »Laßt Euch von mir nicht aufhalten«, sagte er.
    »Verzeiht. Ich . . . wollte Euch nicht stören. Ich wußte nicht, daß Ihr betet.«
    »Ich wollte mich ohnehin gerade erheben«, antwortete Tobias.
    Schweigend sah er zu, wie sie zwei kleine Kerzen entzündete, die den Raum mit einer anheimelnden Helligkeit und dem angenehmen Geruch von heißem Wachs erfüllten.
    »Ist der Arzt noch bei ihr?« fragte Tobias.
    Maria nickte. Ihr Blick wich ihm aus. Als Tobias sie am Arm berührte, spürte er, daß sie zitterte. Hastig zog er die Hand wieder zurück.
    »Ich habe mich noch gar nicht bei Euch bedankt«, sagte er. »Bitte entschuldigt. Ihr habt mir sehr geholfen.«
    »Ich habe nur meine Pflicht getan«, erwiderte Maria.
    »Ihr habt sehr viel mehr getan«, verbesserte sie Tobias.
    »Ich habe gesehen, wie Euer Mann Euch angesehen hat. Er war nicht sehr erfreut. Er wird Euch bestrafen, sobald ich fort bin.«
    »Das macht nichts«, sagte sie. »Ich bin seine Strafen gewohnt. Er schreit und tobt, und er beruhigt sich auch wieder. Ich habe keine Angst.«
    Tobias glaubte ihr. Auf ihre stille, unauffällige Art war diese einfache Frau tapferer und vielleicht sogar stärker als er. Um so schwerer fiel es ihm, die nächste Frage zu stellen.
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    Er hatte es immer gehaßt, Menschen, die ihm von sich aus ihre Hilfe anboten, mehr abzuverlangen, als sie eigentlich geben konnten. Aber er hatte keine Wahl. Maria war vielleicht seine einzige Verbündete in dieser ganzen Stadt.
    »Glaubt Ihr auch, daß sie eine Hexe ist?« fragte er.
    Zu seiner Überraschung lächelte Maria. »Nein«, sagte sie.
    Und dann fügte sie etwas hinzu, das ihn wie ein Schlag ins Gesicht traf: »Ihr liebt sie, nicht wahr?«
    Tobias starrte sie an. Er glaubte zu stürzen, tief, tief, in ein dunkles Loch, aus dem es kein Entrinnen gab.
    »Gott liebt alle Menschen«, stammelte er schließlich.
    »Und ich . . .«
    »Das meine ich nicht.« Marias Stimme war sanft; ihr Lächeln glich dem einer Mutter, die um das große Geheimnis ihres Kindes weiß und ihm verspricht, es in ihrem Herzen zu bewahren. »Ihr liebt sie, wie ein Mann eine Frau liebt.
    Nicht wie ein Priester einen Menschen.«
    »Macht das einen Unterschied?« fragte Tobias und wußte, wie töricht und entlarvend seine Entgegnung war.
    »Manchmal schon«, antwortete Maria. »Und das ist auch gut so. Sie braucht jemanden, der sie liebt. Mehr als alles andere.«
    Wieder glaubte Tobias, der Boden unter seinen Füßen sei ins Wanken geraten. Großer Gott, nichts war mehr, wie es vor ein paar Tagen

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