Wolfsdunkel -7-
eine sich schlängelnde und windende Kobra, die in alttestamentarischer, warnender Weise ihre Zunge hervorschnellen ließ. Ich hatte das Tier zuvor nicht bemerkt, weil das Haar des Mädchens den um ihren Hals geschlungenen Reptilienkörper verdeckt hatte. Aber aus diesem Blickwinkel konnte ich jede Menge Schlange sehen.
Ich hob den Blick zum Gesicht der Zigeunerin. Sie musste um die zwanzig sein und wies die gleiche olivfarbene Haut wie der Rest ihres Klans auf, allerdings waren ihre Augen eher haselnuss- als dunkelbraun. Markante Nase, hohe Wangenknochen – abgesehen von der Schlange war nichts Außergewöhnliches an ihr.
„Sie … sie … “, stammelte Mrs Charlesdown, zu dem Mädchen gestikulierend.
„Beruhigen Sie sich“, beschwichtigte ich sie. „Miss?“ Das Mädchen zog den Kopf ein, sodass ihre Haare vor ihr Gesicht fielen. Die Kobra tanzte auf und ab, als bewegte sie sich zu einer Melodie, die nur sie hören konnte. „Sie sollten besser nicht mit Ihrem … Haustier in die Stadt kommen.“
Die junge Frau lächelte schüchtern und streichelte die Schlange mit einer langfingrigen Hand. Die goldenen Reifen an ihrem Unterarm klimperten, und Mrs Charlesdown zuckte zusammen, als hätte sie jemand in den Allerwertesten gekniffen. Durch die unfreiwillige Bewegung fand sie ihre Sprache wieder.
„Sie hat gestohlen.“
Mrs Charlesdown schaute um Unterstützung heischend zu ihrem Mann, aber der war bereits hinter seinen Apothekertresen zurückgekehrt und machte sich, genau wie sein Sohn, wieder an die Arbeit.
„Das hat sie“, insistierte Mrs Charlesdown.
Die Zigeunerin zog einen Flunsch und schüttelte ihren Kopf so kräftig, dass die Haare aus ihrem Gesicht flogen.
„Oh doch, das hast du“, wiederholte Mrs Charlesdown. „Was versteckst du da in deiner Hand?“
Das Mädchen schob die Hand, die nicht die Kobra streichelte, hinter ihren Rücken.
„Sehen Sie!“ Mrs Charlesdown klang triumphierend.
„Nur weil sie etwas in der Hand hält, muss das nicht heißen, dass sie gestohlen hat“, verteidigte ich das Mädchen. „Sie haben ihr ja gar nicht die Chance gegeben zu bezahlen.“
„Sie war auf dem Weg zur Tür, als ich sie aufhielt. Dann hat mich diese Bestie angezischt.“
Das wäre wirklich eine lohnende Aufgabe für Grace gewesen, aber da ich nun schon mal hier war …
„Darf ich sehen, was du in der Hand hältst?“, fragte ich.
Das Mädchen schüttelte weiter den Kopf; mit ihren geweiteten Augen erinnerte sie mich an ein verängstigtes Pferd, das sich mit Schaum vor dem Maul aufbäumte.
„Ich informiere den Sheriff.“ Mrs Charlesdown griff zum Hörer.
Die junge Frau gab ein abwehrendes, ersticktes Geräusch von sich und stieß ihren Arm nach vorn.
„Legen Sie den Hörer weg!“, befahl ich, und Mrs Charlesdown gehorchte.
Die Finger des Mädchens waren noch immer steif wie Krallen nach innen gekrümmt. Was ich von ihrer Handfläche erkennen konnte, war leer.
Mrs Charlesdown wurde rot, aber sie presste weiterhin die Lippen aufeinander. „Geben Sie nicht mir die Schuld! Jeder weiß, dass Zigeuner stehlen.“
„So wie wir auch Kinder entführen.“
Malachi Cartwright stand in der Tür. Die helle Sommersonne erzeugte einen Lichtring um seinen Kopf und tauchte sein Gesicht in Schatten. Sein Tonfall war scherzhaft leicht gewesen, aber seine angespannte Körperhaltung verriet, dass er keineswegs amüsiert war.
„Sabina“, wandte er sich an das Mädchen. „Ich hatte dir doch gesagt, dass du nicht allein in die Stadt gehen sollst.“
Mit gesenktem Kopf huschte die junge Frau nach draußen; sie wirkte restlos niedergeschlagen wegen des Rüffels. Oder hatte sie etwa Angst? Und wenn ja, vor wem?
„Es gab ein Missverständnis“, setzte ich an.
„Was bei engstirnigen Leuten häufig vorkommt.“ Cartwright trat in den Laden, seine ausdruckslose Miene vorwurfsvoller, als es ein böser Blick hätte sein können.
„Hätte das Mädchen den Mund aufgemacht, wäre auch kein Problem entstanden“, rechtfertigte sich Mrs Charlesdown.
„Nur, dass sie ebenso wenig spricht, wie sie ihre rechte Hand gebrauchen kann.“
„Oh.“ Die Frau des Apothekers reagierte verlegen. „Das ist schlimm.“
„Mit ihrer Schlange hingegen kommt sie gut zurecht“, fuhr Cartwright fort. „Sie verstehen einander ohne Worte.“
„War das eine Kobra?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es eine gewesen war.
Er nickte.
„Sind die nicht giftig?“
Mrs Charlesdown klappte der Mund auf. „Giftig?
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