Wolfsfieber - Band 2
die Insel einen ganz eigenen, unaufdringlichen Charme auf den zweiten Blick offenbarte.
Als wir fast die halbe Insel umrundet hatten, kamen wir an ein paar nebeneinanderliegenden Geschäften an. Sie alle verkauften auf winziger Fläche Glasfiguren, Vasen und Schalen mit dem obligatorischen Murano-Etikett darauf. Der letzte Laden am Ende der Straße hatte noch nicht einmal ein Schild, als wolle er gar nicht erst gefunden werden. Da wusste ich, dass wir gefunden hatten, wonach wir suchen sollten. Der Doktor benutzte ein Glasgeschäft zur Tarnung. Neben der steinalten Holztür, die von einer früheren Überflutung unten schon halb aufgelöst war, befand sich ein kleines Fenster mit verstaubten Glasdelfinen und unmodernen Vasen, durch das Woltan und Istvan ins Innere starrten. Es war finster. Weder hatte der Doktor ein Geöffnet-Schild angebracht, noch stand irgendwo, dass geschlossen sei. Also blieb dem achselzuckenden Istvan nichts anderes übrig, als gegen die marode Tür zu hämmern und dabei so wenig wie möglich von seiner Wolfskraft einzusetzen. Miriam und ich sahen uns skeptisch an. Die ganze Situation war einfach zu absurd und merkwürdig, als befände man sich plötzlich mitten in einem zweitklassigen Film.
Gerade wollten wir aufgeben und es woanders probieren, da packte mich Istvan und Woltan Miriam harsch an der Schulter. Offenbar hatten beide etwas gehört.
„Jemand hat gerade Schlüssel geholt“, erklärte uns Woltan.
„Er kommt jetzt, um aufzuschließen“, führte er weiter aus.
Fast im selben Moment drehte sich der Schlüssel im Schloss und mit einem unangenehmen Quietschen und Knarren öffnete sich die alte Tür. In den dunklen Flur fiel jetzt etwas Licht und beschien ein fremdes Gesicht. Ein kleinerer Mann, nicht viel größer als ich, musterte uns, einen nach dem anderen. Seine stahlgrauen Haare bildeten einen Kranz um seine Glatze. Auch sein Bartschatten war bereits grau. Hinter seiner randlosen Brille tauchten hellblaue Augen auf, die versuchten, die Situation und seine Besucher abzuschätzen. Erst nachdem die zusammengekniffenen Augen wieder geweitet wurden, war ich mir sicher, dass er uns erkannt hatte. Sein dünner Mund versuchte sich an einem willkommenen Lächeln.
„Buon giorno“, grüßte er selbstverständlich.
„Buon giorno“, antworteten wir einer nach dem anderen. Damit endeten meine Italienischkenntnisse auch schon.
Istvan machte sich daran zu erklären, wer wir und weshalb wir gekommen waren. Sofort flammte das Gesicht des kleinen, schlanken Mannes auf. Er hatte uns schon erwartet und schien plötzlich sehr erpicht darauf zu sein, uns so schnell wie möglich von der Straße zu schaffen. Er winkte uns herein und sah sich um, bevor er die Tür schloss. Danach knipste er eine Lampe an. Die Glühbirne steckte in einer einzelnen Fassung, die an einem nicht isolierten Kabel von der Decke baumelte. Dieses Geschäft war definitiv nur Fassade. Ein Tresen -sollte auch von außen den Anschein erwecken, dass hier Verkäufe stattfanden. Doch von innen sah man die zentimeterdicke Staubschicht, die so gut wie alles bedeckte, den Tresen, die halb vollen Regale und die Glaskunstwerke. Der Doktor deutet mit seiner Hand auf uns und murmelte etwas in Ungarisch, das Istvan übersetzen musste.
„Wir sollen hier warten“, sagte er in die Runde. Der Doktor verschwand hinter einer weiteren maroden Tür, hinter der bereits Licht brannte.
„Du wirst übersetzen müssen. Du weißt ja, mein Ungarisch ist nicht das Wahre“, wandte sich Woltan Hilfe suchend an Istvan.
„Keine Sorge, damit habe ich schon gerechnet. Valentin meinte ja, dass der Doktor Ungarisch und Italienisch spricht. Was mir allerdings Sorgen macht, ist, dass er hier haust. Spricht nicht gerade für seinen Geisteszustand“, murmelte Istvan, wo-rauf wir alle ein heftiges Grinsen unterdrücken mussten.
Nach ein paar Minuten, in denen jeder von uns versuchte nichts anzufassen, um nicht völlig verstaubt auszusehen, kam der Doktor wieder. Er zog die Tür einen Spalt auf und winkte uns hereinzukommen. Ich preschte vor, doch Istvan hielt mich kopfschüttelnd zurück. Er wollte vorgehen und behielt mich hinter seinem Rücken. Woltan verfuhr genauso mit Miriam. Mir kam das Ganze übertrieben und lächerlich vor, aber ich ließ ihn gewähren.
Hinter der Tür befand sich ein winziger Zwischenraum mit einer weiteren Tür, die aus Metall und mit einem Vorhängeschloss versehen war. Ich konnte es mir nur so erklären, dass man sich jetzt
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