Wolfsfieber
Diesen Satz vollendete ich und verstummte wieder. Ich
konnte es ihm einfach nicht sagen, nicht, wenn er mich so
besorgt ansah. Nicht, wenn ich dabei in seine grünen Augen,
die ich so sehr liebte, sehen musste. Er sah, dass ich in Be-
drängnis war, und versuchte, mir da herauszuhelfen. Istvan
legte mir besänftigend den Arm um die Schultern und blick-
te mir innig in die Augen, nicht wissend, dass er es mir damit
noch schwieriger machte.
„Gott, was hat er dir bloß angetan? Was wollte er von dir?
Woher wusste er von dir? Ich dachte, wir wären so vorsichtig.
Wie konnte ich so dumm sein, dich in Gefahr zu bringen? Wie
konnte ich nur zulassen, dass dich meine verkommene Welt
erreicht?“, stammelte er, sich selbst anklagend, unaufhaltsam
vor sich her. Ich musste nun schnell handeln, bevor er begann,
sich in seinem Selbsthass zu verlieren. Ich nahm sein Gesicht
in meine Hände und blickte ihn fest und entschlossen an.
„Es ist nicht deine Schuld, verstehst du? Es ist nicht
deine Schuld. Er ist es, er ganz alleine!“, deklarierte ich mit
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überzeugender Stimme. Doch am Ende meiner Feststellung
brach ich dennoch in Tränen aus, verursacht durch die Un-
ausweichlichkeit der schrecklichen Wahrheit.
Also erzählte ich alles von Anfang an. Ich erzählte von
meiner Entführung, von meiner Gefangennahme, von Far-
kas’ Gemeinheiten und Brutalität. Ich erzählte von seinem
perfiden Plan, davon, wie er über mich, über meine Zweifel
an Istvan herankommen wollte, ließ aber noch im Unklaren,
wer Farkas tatsächlich war. Ich berichtete von meiner Angst,
er könne mich verwandeln, von meiner Angst, Istvan zu ver-
lieren. Er hörte aufmerksam zu. Er versuchte es. Ich konnte
aber sehen, wie der Zorn in ihm immer größer wurde und
wie ihm jedes Mal, wenn ich von meiner Angst oder von der
Grobheit Farkas’ berichtete, fast das Herz stehen blieb. Als
ich eine Minute still war und er etwas Zeit zum Nachdenken
hatte, wurde er sich der Fehler und Auslassungen in meiner
Erzählung bewusst.
„Ich hatte bei Farkas von Anfang an so ein scheußliches
Gefühl. Aber ich verstehe nicht, wieso er so viel Aufwand auf
sich nimmt und ausgerechnet mich dazu zwingen will, sein
neuer Leitwolf zu werden. Wieso ich?“, fragte er völlig frust-
riert und ich spürte, dass er sich nicht um sich selbst grämte,
sondern dabei an mich, an uns dachte.
„Weil du …“, begann ich und verstummte sofort wieder.
Mein Herz pochte nun.
„Du hast Angst. Ich kann es deutlich hören. Wieso hast
du so große Angst? Doch nicht vor mir?“, fragte er mit aufge-
rissenen Augen. Er war aus seiner sitzenden Position hoch-
geschnellt und stand nun vor mir. Istvan blickte auf mich
herab, vor Furcht verdunkelte sich sein ganzes Wesen. Ich
sah nicht zu ihm auf. Ich konnte es nicht. Ich schloss die
Augen und sprach es aus, flüsternd:
„Weil er dein Vater ist!“
Es war totenstill. Im ganzen Zimmer schien sich nicht ein-
mal die Luft zu bewegen. Als ich endlich den Mut fand, die
Augen zu öffnen, entdeckte ich Istvan an der Wand gegen-
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über. Er war in sich selbst zusammengesackt und lehnte mit
dem Rücken gegen die Wand. Er raufte sich die Haare. Seine
Finger waren verkrampft mit seinen Sandsträhnen bedeckt.
Sein Blick war leer, verletzt und auf den Boden geheftet. Er
wiederholte immer wieder, kaum hörbar.
„Nein. Das kann nicht sein. Das ist nicht möglich. Nein.“
Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Ihn in dieser
Verzweiflung zu wissen und nichts dagegen tun zu können,
war unerträglich. Vielleicht hätte ich es ihm nicht erzählen
sollen. Aber das war nur ein unerfüllbarer Wunschtraum. An
dieser Wahrheit führte kein Weg vorbei.
„Istvan“, sein Name klang nun aus meinem Mund wie ein
Klagelied.
„Es tut mir so leid. Ich wünschte, es wäre nicht wahr.
Aber es ist das, was er sagte. Er hat nicht gelogen. Er ist
dein … Er ist es wirklich.“
„Wieso bist du dir so sicher? Ich muss es wissen. Sag es
mir!“, befahl er mir in einem beinahe harten Ton.
„Ich kann nicht“, sagte ich ihm mit Tränen in den Augen
und in der Stimme.
Ich atmete lange ein und ließ die Wahrheit aus mir he-
rausströmen, um mich von ihr endlich zu befreien und ihn
damit im selben Moment zu belasten.
„Er hat mir erzählt, wie er dich gebissen hat, als du fünf-
zehn warst, und wie er dich davor gezeugt hat. Er hat deine
Mutter verführt und danach verlassen. Sie muss
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