Wolkengaenger
können, und,
was am wichtigsten war, um eine Pflegemutter |246| für ihn zu finden. Ich hatte schon fast damit gerechnet, von Adela an der Treppe abgefangen zu werden und gesagt zu bekommen,
dass ich mich hier nie wieder blicken lassen solle. Ich wusste, dass sie das Gefühl hatte, sich wegen Wanja in eine prekäre
Lage gebracht zu haben, und nun hatte die Person, die wir ihm als seine Mama vorgestellt hatten, alle im Stich gelassen. Adela
würde sich dafür rechtfertigen und scharf zurechtweisen lassen müssen. Wir folgten ihr in ihr Büro, in dem wir über die Jahre
hinweg so viele schwierige Unterredungen geführt hatten.
Ich wandte meine übliche Strategie an und redete, ohne Luft zu holen. Ich kroch vor ihr zu Kreuze, erniedrigte mich regelrecht.
Ich entschuldigte mich, diese Frau in ihr Leben gebracht zu haben. Wir hatten Linda nicht dazu bringen können, zur Anhörung
zu erscheinen; die Adoption war gescheitert. Ich zollte Adela Anerkennung für ihre Bemühungen um Wanja und dafür, dass sie
erkannt hatte, was in ihm steckte, während ringsherum alle nur einen Schwachsinnigen in ihm sahen. Das ungläubige Staunen,
mit dem Alan meinem Redeschwall an unterwürfigen Halbwahrheiten lauschte, entging mir dabei nicht.
Adela hatte nie zuvor einen Ausländer erlebt, der sich bei ihr in aller Form entschuldigte. Sie war es gewohnt, Ausländer
in schicken Wagen vorfahren und Geschenke verteilen zu sehen. So edel und bescheiden deren Absichten auch sein mochten, für
Adela verkörperten sie immer Reichtum, Macht und einen für sie unerreichbaren gesellschaftlichen Status. Mein Verhalten machte
sie daher zugänglicher. Während wir bei Tee und Torte zusammensaßen, erzählte ich ihr von der Möglichkeit, Wanja in Marias
Projekt unterzubringen. Ich schilderte Maria als fromme Person, eine Wissenschaftlerin, deren Arbeit von der orthodoxen Kirche
anerkannt wurde. Ihr Projekt sei noch jung, doch Adela solle sich keine Sorgen machen. Ich verschwieg ihr, dass Marias Projekt
zum Teil von ausländischen Geldern finanziert wurde und sie sich von britischen Experten beraten ließ. Stattdessen hob ich
hervor, dass das |247| Projekt noch immer unter seinem alten sowjetischen Namen Kinderheim Nr. 19 bekannt war und vom Moskauer Bürgermeister unterstützt
wurde. Ich versuchte ihr klarzumachen, dass Wanja auf keinen Fall in eine Anstalt geschickt werden durfte. War er erst einmal
dort, würden ihn die Behörden nicht mehr an dem Projekt teilnehmen lassen. Also verließ ich mich einmal mehr auf Adelas innere
Kraft und Stärke, Wanja noch ein paar Wochen länger bei sich im Babyhaus zu behalten. Als wir auseinandergingen, stand fest,
dass wir in Kontakt bleiben würden. Zum Abschied sagte Adela ›Gott segne Sie‹, woraus wir schlossen, dass sie die Möglichkeit
einer Pflegschaft bei Maria in Erwägung zog.«
Im Rückblick fällt es Sarah selbst schwer zu glauben, wie viel Verantwortung sie damals für Wanjas Schicksal übernommen hat.
»Nicht ein einziges Mal habe ich den Zettel mit Adelas Auftrag, Wanja aus dem Internat zu retten, hervorgezogen. Ich hätte
Adela diesen Zettel unter die Nase halten und sagen sollen: ›Sie haben das alles initiiert, Adela. Wika und Alan haben ihn
aus der Anstalt gerettet. Jetzt sind Sie am Zug. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung, und finden Sie eine Zukunft für ihn.‹
Doch das tat ich nicht. Ich schluckte meine Wut und Enttäuschung hinunter und huschte um sie herum wie ein Mäuschen. Hätte
ich meinem Ärger Luft gemacht, hätte sie mich aus dem Babyhaus geworfen, und dann hätte niemand die Verantwortung für Wanjas
Überleben übernommen.«
Im Anschluss an das Gespräch mit Adela gingen Sarah und Alan zur Gruppe 6, um Wanja abzuholen und mit nach draußen zu nehmen.
Es war ein heißer Julitag. Die allgemeine Aufmerksamkeit genießend, jauchzte Wanja vor Freude, als Alan mit ihm auf das Klettergerüst
zusteuerte und ihn ermunterte, die Leiter hochzuklettern. Oben angekommen reckte er den Hals und zeigte auf die geschäftige
Welt jenseits des hohen, stählernen Tores.
»Onkel Sascha«, rief er gebieterisch in Richtung der Wachmänner, die auf der Veranda des Babyhauses herumsaßen und Zeitung
lasen. »Da kommt ein Auto. Du musst das Tor aufmachen.« |248| Der Wachmann faltete seine Zeitung zusammen und schlurfte davon, um das Tor zu öffnen.
Als Wanja dort oben auf seinem Thron auf dem Klettergerüst residierte, schien er nicht
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