Wolkengaenger
mit Autos drauf. Und dann ist da noch ein Teppich.«
»Und gibt es eine Lampe?« Das war Wanjas Lieblingsfrage. Bevor er sie beantwortete, atmete er tief durch.
»Es gibt sogar zwei Lampen. Eine an der Decke, mit einem Lichtschalter neben der Tür, so wie hier. Aber dann gibt es noch
eine zweite Lampe – auf meinem Nachttisch. Ich brauche einfach nur die Hand ausstrecken und kann sie an- und ausschalten,
wann immer ich will. Wenn ich nachts aufwache, kann ich sie anmachen und sehe etwas.«
|241| Julia wollte gerade zum nächsten Teil des Spiels übergehen und ihn zum Bad und der Dusche befragen, als die Tür aufflog und
Swetlana hereinkam.
»Der Gerichtstermin steht fest, Wanja. Er ist am 6. Juli.«
Wanja hatte das Wort »Gericht« schon einmal gehört und verstand, dass dies ein wichtiges Ereignis war. Er hatte keine Ahnung,
wann Juli war, aber am Klang von Swetlanas Stimme konnte er erkennen, dass es schon bald sein musste. Eine Sache musste er
allerdings noch wissen.
»Dann gehe ich also nicht ins Internat 30?«, fragte er.
»Nein, Wanja. Du gehst nach England.«
Im Laufe der nächsten Tage hörte Wanja immer wieder das Wort »Gericht«. Jedes Mal sorgte es für ein warmes Gefühl in seinem
Inneren. Zum ersten Mal in seinem Leben freute er sich tatsächlich auf die lange Schlafenszeit am Nachmittag, denn dann konnte
er sich ganz den Träumereien von seinem zukünftigen Leben hingeben. Eines allerdings verstand er dabei nicht: Linda hatte
ihm erzählt, dass sie in einem Haus leben würden, nicht in einer Wohnung. Aber was war ein Haus? Und was hatte es zu bedeuten,
dass die Schlafzimmer im oberen Stockwerk waren? Was war ein oberes Stockwerk? Sie hatte ihm außerdem von einer Katze erzählt,
die im Haus lebte und auf ihrem Bett schlief. Merkwürdig. Jeder wusste, dass Katzen dreckig waren und draußen wohnten. Sie
hatte auch einen Hund. Aber Hunde kannte er ja nun schon. Und einen Vogel im Käfig, der sprechen konnte. Darüber dachte er
besonders viel nach. Warum war der Vogel in einem Käfig?
Am nächsten Morgen kam Sarah vorbei, und Wanja stellte ihr sofort alle möglichen Fragen über England, doch Sarah schien ihm
gar nicht zuzuhören. Sie nahm ihn mit nach draußen und übte mit ihm Laufen. Als er ihr sagte, dass er müde war, erlaubte sie
ihm nicht, sich hinzusetzen und zu reden, sondern schickte ihn die Leiter auf dem Spielplatz hoch. Sie holte einen Spielzeughammer
und Nägel aus ihrer Tasche, und oben angekommen rief sie ihm zu: »Jetzt musst du das Gerüst reparieren.« Wanja konzentrierte
sich ganz darauf, den |242| Nagel senkrecht zu halten, während er ihn in das Gerüst hämmerte. Erst später, als er während der Schlafenszeit in seinem
Gitterbett lag und die Geschehnisse des Vormittags überdachte, fiel ihm auf, dass Sarah ihm nicht eine einzige Frage über
Mama Linda beantwortet hatte.
Die Tage vergingen, und Wanja wurde nicht müde, jeden Erwachsenen, den er traf, zu fragen, wann der Gerichtstermin war. Zwar
verstand er nicht, was sie ihm antworteten – er hatte diese Zahlen oder Wörter nie gelernt –, doch es beruhigte ihn,
wie
sie es sagten. Eines Tages sagte eine der Betreuerinnen dann »morgen«. Das verstand er. Er würde seinen Mittagsschlaf halten,
würde abends ins Bett gehen, und wenn er am nächsten Morgen aufwachte, war Gerichtstag. In dieser Nacht tat er vor Aufregung
kein Auge zu. Am nächsten Morgen hatte die mürrische Galina Dienst, und als er am Tisch saß und seinen Haferbrei aß, suchte
er mit den Augen den Raum nach einer Jacke und Stiefeln ab, die er für den Gerichtstermin brauchte. Doch Galina hatte weder
Jacke noch Stiefel herausgelegt. Da fiel ihm ein, dass Sommer war und er gar keine Jacke anziehen musste. Also suchte er nach
anderen Anzeichen, die darauf hinwiesen, dass er das Babyhaus verlassen würde. Galina war so wie immer. Schweigend zog sie
ihm ein altes T-Shirt und eine geflickte Hose an und ignorierte seinen Protest, dass er für das Gericht etwas Schickeres anzuziehen
bräuchte. Stunden vergingen, und Galina nahm die anderen Kinder mit nach draußen. Wanja und Julia blieben allein zurück. Voller
Erwartung, Adela oder Swetlana dahinter auftauchen zu sehen, ließ Wanja die Tür nicht einen einzigen Moment aus den Augen.
Seine Freundin sagte kein Wort, sondern warf ihm lediglich besorgte Blicke zu.
Als die Tür endlich aufging, war es Adela, die erschien. Ihre finstere Miene erinnerte Wanja an
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